2. Sonntag nach Trinitatis – Evangelium und Predigttext: Lukasevangelium 14,15-24
Das schöne, alte Geschirr steht schon viel zu lange im Schrank. Da sind die Teller, die sie damals zur Hochzeit bekamen und die Jahrestassen, kunstvolle Glasur in Perlmutt gebrannt, von der Oma. Kaffee dampft, Frankfurter Kranz, Schnittchen, der Sekt steht kalt. Vorfreude lässt das Herz höherschlagen. Allein die Vorstellung, dass alle mal wieder durchei-nanderreden und lachen, belebt. Dann die erste Absage: „Bitte verstehe es, da ist doch dieser Acker, ja, ich hatte es erzählt, du erinnerst? Da muss ich hin.“ Schade, aber jetzt ist es nicht mehr zu eng am Tisch. Dann: „Du stell dir vor, ich habe mir ein neues Auto gekauft, ich muss damit los. Du verstehst schon.“ Die Vorfreude bröckelt. Und dann geht das so weiter, Absage jagt Absage. Und zum Schluss: Deine beste Freundin ist verliebt. Schön für sie, aber warum gerade heute? Da steht das schöne Geschirr auf dem Tisch und jede leere Tasse sagt und der Kaffee zischelt es aus der Kanne: „Alle lassen dich im Stich.“ Stich ins Herz.
Jede einzelne Entschuldigung ist gut nachvollziehbar. Vor allem die Letzte: Ich habe eine Frau geheiratet, darum entschuldige mich. Aber: In der Summe wird jede Entschuldigung zur Ausrede. Und die Ausreden hängen an einer Girlande über der gedeckten Tafel.
Wenn man bedenkt, dass Jesus hier von der Ge-meinschaft spricht, die er stiftet, dann wird es krass. Denn das Signal ist: Es gibt noch etwas, das ist wich-tiger als du. Das tut weh. Manchmal gibt es Diskussionen über den sonntäglichen Gottesdienst. Die klingen ähnlich. Und ich weiß: Man kann so erfüllt sein mit Lebensglück, Liebe und mit dem Programm der Arbeit, von schweren, herausfordernden Auf-gaben, dass der Platz für Gott und die Gemein-schaft knapp wird. Man kann so beschäftigt sein, dass einem nichts anderes übrigbleibt, als abzusa-gen. In Jesu Erzählung hängt aber am Ende eine ganze Girlande mit Ausreden trostlos über der lee-ren und liebevoll gedeckten Tafel.
Gemeinsame Mahlzeiten ziehen sich durch das Lukasevangelium: Man stelle sich vor, der Zöllner Zachäus, bei dem Jesus einkehrt, hätte sich heraus-geredet. „Tut mir leid, ich muss da noch ein kleines Geschäftchen abwickeln.“ Oder die Emmausjünger, denen Jesus das Brot bricht und sich in dieser Geste zu erkennen gibt, hätten gesagt: „Wir haben es eilig, sorry, tschüss.“ Ich selbst bin nicht frei davon, habe es auch eilig. Die Einladung, die Gott ausspricht, anzunehmen, zählt zu den Herausforderun-gen des Lebens. Dass ich es bin, dem an diesem Tisch ein Platz gedeckt ist, das muss ich erst begreifen. Beim Decken des Tisches hat dein Gastgeber genau dich vor Augen. Brot und Wein stehen auf dem Altar, der Kaffee ist durchgelaufen, jemand hat Kuchen gebacken. Im Lukasevangelium wird dem verlorenen Sohn ein Kalb geschlachtet und um einen verlorenen Groschen wird eine Party gefei-ert. So ist es gemeint: Gott lädt ein und Gott lässt sich nicht lumpen und hat dein Gesicht vor Augen.
Für mich persönlich kann ich sagen, dass ich mich auf der anderen Seite der Erzählung Jesu sicherer fühle. Als alles dann fertig ist, alle abgesagt haben, kommt das Notprogramm. Oder: Die Not des Gast-gebers macht ihn erfinderisch. Ich habe an den Hecken und Zäunen Menschen kennen gelernt, die mir Gott nahegebracht haben. Da ist ein Vermieter, der unerwartet zu einer Geflüchteten sagt: „Ich werde euch helfen.“ Da ist der Bausoldat, der erzählt: „Als ich zur Armee musste, sah ich am ersten Tag schon: Wir sind die an den Hecken und Zäunen. Und der Pastor war vor der Kaserne für uns da.“ „Da wurde der Hausherr zornig und sprach zu seinem Knecht: Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen und Verkrüppelten und Blinden und Lahmen herein,“ er-zählt Jesus. Das ist die sichere Seite im Gleichnis. Da, wo ich herkomme, da zieht mich Jesus heute hin: An Zäune und Hecken.
Die Kaffeetassen klappern, endlich, der Frankfurter Kranz ist nach wenigen Minuten verputzt. Grobe Hände halten dünne Porzellantassen, ungeübte Lippen schlürfen. Da sitzen sie: Der Sohn, der verloren war. Der hätte jede Menge Ausreden parat gehabt. Oder der Zöllner, der direkt neben Jesus sitzt, der hätte sich herausreden können. Doch die verzichten darauf, die Girlande mit neuen Ausreden zu behängen. Die Tassen klappern, der Kuchen verschwindet in hungrigen Mägen. Alle wissen so genau, wie ich es weiß, wie verloren sie waren: Der eine spricht vom Schweinefutter, an dem er sich versucht hatte. Die andere von diesem Alleinsein auf der Stube in der Kaserne. Eine dritter vom Ende all der Ausreden, mit denen sich selbst schmücken wollte. Sie ahnen nicht, für wen diese Tafel eigent-lich gedeckt war, sie wissen, sie sind jetzt gemeint. Das ist die Einladung, die sie diesem Sonntag er-reicht hat: „Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, dass mein Haus voll werde.“
Osterlicht - rein wie am Anfang
Das Morgenlicht blendet. Sonnenlicht fällt direkt durch die Fenster unserer Kirche, die Farben der bunten Gläser leuchten hell. Es ist Gottesdienst, die wenigen Staubkörner tanzen in der Luft, rote Farbtöne dominieren. Wir singen „Morgenlicht leuchtet, rein wie am Anfang“, das Spiel des Lichtes macht es österlich. In der Mitte des Fensters steht Jesus. Er, umhüllt von einem wertvollen Gewand, schwebt beinahe, wirkt schwerelos. Ostern ist, wenn Jesus in das Leben der Menschheit hinein strahlt. Man hatte ihm nachgestellt, dann hatte man mit ihm kurzen Prozess gemacht, ihn hingerichtet, zuletzt trugen ihn die, die zu ihm gehalten hatten, zu Grabe. Sie stellten einen tonnenschweren Stein auf. Gott aber schenkte Leben. Das Fenster in unserer Ahlbecker Kirche erzählt davon. Hinter seinem Kopf sieht man das Kreuz. Ein Heiligenschein ist angedeutet, der steht für die Überwindung des Todes. Während sich das Licht farbig in der Luft bricht, drängen sich Erinnerungen in den Vordergrund. „Du solltest deinen Eltern noch ein Foto schicken, sie würden sich über einen Ostergruß freuen.“ Ich erschrecke über meinen Gedanken, die beiden leben schon lange nicht mehr. Manchmal sind sie mir trotzdem so nah, als wären sie nebenan. Liebe ist stärker als der Tod. Dieses Gefühl, mit dem ich an sie denke, ist ein Lichtstrahl am Morgen. Jesus hält den Kelch in seiner Hand und segnet den Wein. Er hat den Durstigen zu trinken gegeben und denen, die ohne Hoffnung waren, hat er frisches Vertrauen geschenkt. Er ist mit seinem Sterben nicht in der grauen Vergangenheit versunken. Jesus taucht die Gegenwart in ein österliches Licht. Hoffnung ist die Farbe dieses Osterfestes. Bunt, mit vielen Rottönen, leuchtet sie in das Leben hinein. Es wird viel vom Untergang gesprochen. Angst wird geschürt. Unzufriedenheit verdunkelt manche Gedanken. Ostern zeigt das Gegenteil. „Ich spreche nur noch von meiner Hoffnung“, sagt eine Frau, die seit Monaten eine „Chemo“ bekommt. Sie hat Schmerzen und lächelt trotzdem. „Ostern wirft sein Licht in das Leben hinein“, denke ich. Jetzt singen wir in unserer Kirche ein Osterlied: „Wir wollen alle fröhlich sein in dieser österlichen Zeit“, die Sonne steigt immer höher. Henning Kiene Pastor in Ahlbeck und Zirchow (für die ostseezeitung Ausgabe Usedom 08.04.2023)
zum 24. Februar 2023 - Passion – Ostern 2023
1) Wir leben aus dem Segen,
den du verheißen hast,
auf allen wirren Wegen,
schenkst du dem Herzen Rast.
2) Wir beten für den Frieden,
den Jesus uns versprach.
Hilf Feinden sich zu lieben,
dein Wort halt in uns wach.
3) Lass alle Waffen schweigen,
das Blut, das klagt dich an.
Wir wollen uns verneigen,
vor dir, der Frieden kann.
4) Wir schaun auf Jesus Christus,
dein Kreuz strahlt uns von fern,
im Leiden gehst du mit uns,
du leuchtest warm als Stern.
5) Du bist der Gott des Lebens,
du birgst uns selbst im Tod,
wir wandern nicht vergebens,
nun führ uns aus der Not.
Text: Henning Kiene im Anschluss an Josua Stegemann (1627) EG 347, Melodie: Melchior Vulpius (1609) EG 516
Aller Anfang ist schwer - „Fürchte dich nicht.“ - Wort um Sonntag in der Ostseezeitung (Usedom) am 29.10.2022
Ein junger Mann bedient. Er packt die Brötchen in die Tüte. Das wirkt etwas umständlich. Dann kassiert er, zählt zweimal das Rückgeld. Hinter mir spüre ich Unruhe. Ein: „Geht das nicht schneller“ liegt in der Luft. Aber es geht nicht schneller. Er kennt die Roggen-, Dinkel-, Bauernbrötchen noch nicht. Sein Gesicht wird blasser, in seinen Augen steht die Angst. Bloß keinen Fehler machen! Kein Wunder: Der junge Mann drückte vor Kurzem noch die Schulbank.
Ein gestandener Handwerker erzählt von seinem Start ins Berufsleben. Das war vor Jahrzehnten. Am zweiten Tag forderte ein Kollege: „Hol mal den feinen Froschhaar-Pinsel!“ Er lief los. Er suchte. Er merkte, dass alle lachten. Er wurde puterrot. „Hol mal den Bohrlochentferner“, hieß es am nächsten Tag. Immer wieder versuchten sie neue, sinnlose Aufträge. „Hol mal“, dieses Kommando fürchtet er bis heute. „Mein Start in den Beruf war voller Angst,“ erinnert er. Irgendwann kam der älteste Kollege: „Ich hole mal eben den Holzmagneten und der Kleine kommt mit.“ Sie rauchten eine Zigarette. „Keine Angst, das hört auf, sofort“, versprach der Ältere und sagte: „Fürchte dich nicht.“ Das: „Hol mal eben“, hörte auf, er schöpfte Mut und hielt durch.
„Fürchte dich nicht“, steht 365-mal in der Bibel, für jeden Tag einmal. Dieser Satz sorgt für einen persönlichen Reformationstag. Martin Luther hat am 31. Oktober 1517 den Anfang gemacht. Er hat die Angst bekämpft. „Ohne Angst ging es mir damals viel besser, ich lernte schnell“, erinnert sich der gestandene Handwerker.
Eine erfahrene Kollegin kommt dem jungen Mann hinter dem Brötchentresen zur Hilfe. Die Warteschlange schrumpft. Leise erklärt sie ihm nebenbei die Brötchensorten und strahlt Ruhe aus. Er wird wieder sicherer. Trotzdem sieht der junge Mann ängstlich hoch. „Fünf Schnittbrötchen“, sagt der nächste Kunde laut. Das geht zügig. „Zehn Schnittbrötchen“, sagt die Nächste. Immer schneller geht es weiter. Die Körner-, Dinkel-, Müslibrötchen bleiben liegen. Es ist wie eine abgesprochene Verabredung. Die Leute wollen es ihm leichter machen, sie kaufen nur noch die einfachen Schnittbrötchen. „Fürchte dich nicht.“ Jemand muss damit Ernst machen und anfangen. Der älteste Kollege hat das vor Jahrzehnten geschafft. Jetzt tun die Kunden in der Bäckerei etwas gegen diese Angst. Die Schlange löst sich auf. Die Farbe kehrt zurück in das junge Gesicht. Mit einfachen Schnittbrötchen komme ich nach Hause.
ZDF-Fernsehgottesdienst – 07.08.2022 (Aufnahme 08.08.2021) - Thema: „reich beschenkt“ – Bibeltext: Joh 15,9-16 (BasisBibel)
Liebe Gemeinde,
schon als Kind freute ich mich auf den Sommer. Wenn die Urlaubskasse gefüllt war und unsere Eltern ein freies Quartier fanden, ging es an die See. Wir sagten: An das Meer. Das klang nach Weite und Licht, nach würziger Salzluft und an heißen Tagen mischte sich der süßliche Geruch der Sonnenmilch auch noch ein. Nach langer Fahrt kamen wir an. Wir Geschwister stürmten sofort zum Strand, rutschten die höchste Düne runter und riefen mit lauter Stimme „Hallo Meer, wir sind wieder da“. Wir waren übermütig, kullerten durch den Sand und stapften auch noch mit den Füßen durch das seichte Wasser. Diese Erinnerung kann ich jederzeit wachrufen. Und manchmal höre ich noch heute die Stimme meiner Schwester und sage ganz leise den alten Gruß: „Hallo Meer“.
„Die Freude wird euch ganz erfüllen“, sagt Jesus. Und wenn man mich heute fragt, wie ich mir das vorstelle „mit Freude ganz erfüllt zu sein“, dann hilft mir dieser erste Moment im Urlaub. Diese tiefe Zufriedenheit, die sich einfach ausbreitete. In ihr war Platz für uns, die Geschwister, unsere Mutter, unseren Vater und den ganzen Kosmos. Die lange Anreise war vergessen. Jetzt zählten nur noch die Ferien, Zeit mit der Familie, Strand, Burgen bauen, Schiffe gucken.
Abends lagen wir müde und glücklich in den frisch bezogenen Betten, Vater las uns vor. Nach wenigen Sätzen schliefen wir glücklich und zufrieden ein. Dass der Dünensand aus den Haaren rieselte, merkten wir erst, als es schon zu spät war. „Das ganze Bett ist sandig“, hieß es morgens, „das nervt“, sagten wir. Haben Sie schon einmal versucht, Dünensand aus dem Bett zu klopfen? Sand ist hartnäckig. Die gute Stimmung war angekratzt. Unser Ärger war aber schnell vergessen.
Seit damals verbindet sich das Wort Ferien mit dem Gefühl, zufrieden sein zu dürfen. Für meinen Glauben hat der Sommer an der See eine Weiche gestellt: Wir sind dazu bestimmt, uns nicht zu ärgern, wir sind dazu bestimmt, in einem umfassenden Sinn zufrieden zu sein.
Unzufriedenheit geht im Urlaub extrem schnell. Wenn die Erwartungen groß sind, dann reicht wenig, um enttäuscht zu sein. Jemand fragt: Wieso muss da ausgerechnet neben mir diese laute Musik laufen? Warum muss gerade ich beim Bäcker so lange warten? Und vom Stau im Sommer auf den Inselstraßen stand auch nichts im Prospekt. Das hatte ich mir doch ganz anders vorgestellt. Und: Ich habe schließlich dafür bezahlt. Es ist doch teuer, Urlaub zu machen. Und: Ich habe einen Anspruch, das ist eine Garantie auf Zufriedenheit. Es gibt Rechtsanwaltskanzleien, die beschäftigen sich ausschließlich mit Reiserecht. Da wird gestritten über den Dreck am Pool und die laute Bar unter dem Fenster der Ferienwohnung. „Das hatte ich mir anders vorgestellt“, sagt man dann.
Irgendwann zwischen der Kindheit und heute scheint da etwas verloren gegangen zu sein. Damals war jeder Tag ein neuer Tag – voller Überraschungen. Heute haben wir feste Vorstellungen, wie etwas sein muss. Und dann sind wir schnell unzufrieden, wenn es nicht so ist, wie wir es wünschen. Weil sich das Leben nicht nach unseren Vorstellungen richtet.
Lied „Schönster Herr Jesu“ EG 403, 2
Bei uns auf Usedom ist von dem Maler Philipp Otto Runge ein altes Märchen ausbewahrt worden. Es ist wohl hier am Achterwasser erzählt worden. Ein echtes „Usedom Märchen“. Da geht es darum, wie schwer es ist, zufrieden zu sein.
„Es war einmal ein Fischer und seine Frau, die wohnten zusammen in einem alten Pott dicht an der See, und der Fischer ging alle Tage hin und angelte, Eines Tages zog er einen großen Butt heraus. Da sagte der Butt zu ihm: »Höre, Fischer, ich bitte dich, lass mich leben, ich bin ein verwünschter Prinz!« »Nun«, sagte der Mann, »ich werde dich doch wohl schwimmen lassen.« Der Fischer aber stand auf und ging zu seiner Frau in den alten Pott.
»Mann«, sagte die Frau, »hast du heute nichts gefangen?« »Nein«, sagte der Mann, »ich habe einen Butt gefangen, der sagte, er sei ein verwünschter Prinz, da habe ich ihn wieder schwimmen lassen.« »Hast du dir denn nichts gewünscht?« »Nein,was sollte ich mir denn wünschen?« »Ach«, sagte die Frau, »es ist doch übel, hier immer in dem alten Pott zu wohnen, der stinkt und ist so eklig. Geh noch einmal hin und rufe den Butt und sage ihm, wir wollen eine kleine Hütte haben. Er tut das gewiss.«
Der Mann ging hin an die See und rief:
»Manntje, Manntje, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
meine Frau, die Ilsebill,
will nicht so, wie ich wohl will.«
Da kam der Butt angeschwommen und sagte: »Na, was will sie denn?« »Ach«, sagte der Mann, »ich hatte dich doch gefangen, nun sagt meine Frau, ich hätte mir etwas wünschen sollen. Sie mag nicht mehr in dem alten Pott wohnen, sie wollte gerne eine Hütte.« »Geh nur hin«, sagte der Butt, »sie hat sie schon.« Da ging der Mann hin, und es stand nun eine kleine Hütte da, und seine Frau saß vor der Tür auf einer Bank. So ging das wohl acht oder vierzehn Tage, da sagte die Frau: »Hör, Mann, die Hütte ist auch gar zu eng. Der Butt hätte uns wohl auch ein größeres Haus schenken können. Geh hin zum Butt, er soll uns ein Schloss schenken!«
»Nein, Frau«, sagte der Mann, »der Butt hat uns erst die Hütte gegeben, ich mag nun nicht schon wieder kommen, das könnte den Butt verdrießen.« »Geh doch!« sagte die Frau. »Er kann das recht gut und tut das gern, geh du nur hin!“ Als er an die See kam, stellte er sich hin und rief:
»Manntje, Manntje, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
meine Frau, die Ilsebill,
will nicht so, wie ich wohl will.«
»Na, was will sie denn?« sagte der Butt. »Ach«, sagte der Mann halb bekümmert, »sie will in einem großen Schlosse wohnen.« »Geh nur hin, sie steht schon vor der Tür«, sagte der Butt. Da ging der Mann fort und da stand nun ein großer, steinerner Palast und in dem Schlosse war alles, was man sich nur immer wünschen mag. »Na«, sagte die Frau, »ist das nun nicht schön?« Doch es dauerte nicht lange, da wollte die Frau mehr und dann immer noch mehr und als der Mann das letzte Mal an die See kam, rief er wieder:
»Manntje, Manntje, Timpe Te,
Buttje, Buttje in der See,
meine Frau, die Ilsebill,
will nicht so, wie ich wohl will.«
»Na, was will sie denn?« fragte der Butt. »Ach«, sagte er, »sie will wie der liebe Gott werden.« »Geh nur hin, sie sitzt schon wieder in dem alten Pott.« Und da sitzen sie noch bis heute und auf diesen Tag.“
Sie hatten den Bogen überspannt, beide, der Fischer und seine Frau. Die Blase ihrer ständigen Unzufriedenheit platzt. Da sitzen sie nun wieder da, wo sie einst saßen, vor dieser Hütte, die das Märchen auch „Pisput“ nennt. Ich habe Mitleid mit ihnen. Nichts ist ihnen gut genug und nichts ist richtig. Ich denke dann, was sind das für arme Menschen, die sich ihr Leben immer anders wünschen, als es gerade ist. Das Märchen wäre besser ausgegangen, wenn der Fischer und seine Frau einmal innegehalten hätten, wenn sie das Häuschen, das der Butt ihnen geschenkt hatte, mit Leben gefüllt hätten, etwas mehr geklönt, mit Nachbarn im Garten gegrillt hätten. Der Butt hatte ja für alles gesorgt. Gut wäre es gewesen, wenn sie mehr miteinander erlebt hätten.
Vor einigen Tagen lief ein kleines Kind auf seinen noch ganz kurzen Beinen an den Strand. Die Sonne ging gerade unter, der Himmel führte sein rot-gelb-violettes Abendschauspiel auf. Das Kind blieb mit offenem Mund stehen, sagte lang gezogen „Oh“. Es staunte, als wäre da nur noch dieses Farbspiel. Vermutlich war es zum ersten Mal an der See, in jedem Fall war es überwältigt. Staunen und Zufriedenheit verschmelzen ineinander und es bleibt nur noch die Freude. Und die Erwachsenen, die ihr Kind beobachteten, staunten über dieses Staunen.
Ich stelle mir vor, am Ende säße ich selbst wieder vor dem alten Pisput. Waru
m? Weil ich nie zufrieden war mit dem, was ich hatte. Und dann ärgere ich mich: Warum habe ich der Freude keine Chance gegeben? Irgendwann haben wir nur noch geschwiegen, wie der Fischer und seine Frau. Ach, hätte ich doch nie aufgehört, dem Meer ein „Hallo“ zuzurufen. Und dann würde ich mir vorwerfen: Hättest du doch mehr von deiner ursprünglichen Freude bewahrt.
Wenn heute der Sand im Bett reibt und ich morgen beim Bäcker in einer langen Schlange auf mein Brot warten muss, dann will ich nicht unzufrieden sein, sondern dann will ich mir sagen: „Genauso ist dein Leben richtig“. Wir beginnen dann einen Klönschnack satt stumm zu warten. Etwas Smalltalk tut gut. Das Leben läuft häufig etwas anders als ich es mir gerade wünsche, ich will dafür offen sein. Das Glück verdient in jedem Fall seine Chance.
Lied „Schönster Herr Jesu“ EG 403, 4
Der Satz „das habe ich mir anders vorgestellt“, sagt sich leicht. In der Lesung, die wir gehört haben, tut Jesus etwas dagegen. Er sagt: „Nicht ihr habt mich ausgewählt, sondern ich habe euch ausgewählt.“ Ich weiß, dass manche sich das mit Jesus wohl auch anders vorstellen. Wenn er das Reich Gottes verkündet, wenn er Menschen heilt und Wasser zu Wein wandelt, dann könnte er für mehr Freude in der Welt sorgen. Er könnte dafür sorgen, dass die Nachbarin, die einige Wohnungen weiter lebt, endlich gesund oder niemand mehr ernsthaft krank wird. Er könnte für mehr Gerechtigkeit sorgen. Zu viele Menschen leben in Häusern, Zelten, Baracken, Wohnungen, die das Märchen „Pott“ nennen würde, haben kein Wasser und kaum etwas zu Essen. Kurz gesagt: Jesus erfüllt ja auch nicht all die Erwartungen und Wünsche, die er geweckt hat.
Und dann sagt er: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.“ Das entlastet mich, denn wir werden alle von Jesus groß gemacht, trotz unserer Unzufriedenheit. Er sagt Ja zu uns. Zu mir mit meinen Falten und meinen Ecken und Kanten, meinen Fehlern. Ich musss nicht unzufrieden sein, weil er nicht unzufrieden ist. Er sorgt für so eine umfassende Freude, die einen manchmal sogar ganz und gar erfüllt. Jesus gibt uns und unserem Lebensglück eine Chance.
Zum Glück fängt er nicht mit dem an, was unbedingt besser werden muss, im Gegenteil. Mit seinem Satz „ich habe euch erwählt“ entlastet Jesus uns vor diesem Druck, den die Erwartungen aufhäufen. Denn wenn Jesus mich ausgewählt hat, dann setzt er nicht auf ein Leben aus dem Hochglanzprospekt, er meint den echten Menschen. Er wählt Menschen, die sich wie Kinder freuen und staunen können. Er setzt sich über all diese Enttäuschungen hinweg, auch über die, die ich ihm bereite. Ich muss eben nicht alles selbst machen. Das ist für mich der Grund zu einer Lebensfreude, die auch dann bleibt, wenn das Leben einmal nicht meinen Vorstellungen entspricht. Wenn sich nicht alle meine Wünsche erfüllen, dann gilt dieses „ich habe euch erwählt“ noch immer. Und es gibt mir die Chance, vielleicht etwas gelassener zu sein, denn nicht jeder Tag und alle Menschen können meinen Vorstellungen entsprechen.
Jesus schafft einen Raum, in dem sich die Freude ausbreiten kann. So ein Raum ist hier auf unserem Platz vor der Ahlbecker Konzertmuschel, ein Ort für zufriedene Menschen. Wenn der Fischer und seine Frau ihr Glück teilen würden, sie würden es nicht verlieren.
Am letzten Tag in unseren Sommerferien gingen wir immer noch einmal an den Strand. Ein letztes Mal mit den Füßen ins Wasser, noch einmal eine Muschel mitnehmen. Der Picknickkorb war dabei. Wir saßen im Sand, aßen und tranken. Wir würden morgen „Tschüss Meer“ rufen und hoffen auf ein nächstes Jahr. Zu Hause, das hatten wir verabredet, werden wir mit all unseren gesammelten Schätzen vom Meer, den Muscheln, dem Krabben-Skelett, den Bernsteinen ein „Meer-Museum“ einrichten. Später verstaubte mancher dieser Schätze. Unsichtbar bewahrt, aber lebendig bleibt diese besondere Freude, die sich zufrieden in uns ausbreitete. Amen.
Lied „Schönster Herr Jesu“ EG 403, 5
Fürbittengebet:
Jesus sagt: „Wie der Vater mich liebt, so liebe ich euch.“ Nach dieser Liebe sehnen wir uns und beten.
Gemeinde singt: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein.
Jesus Christus spricht: „Die Freude wird euch ganz und gar erfüllen.“- In der Freude, die wir empfinden, bist du uns nah, wir danken dir für die Stimmen der Kinder, die Farben des Himmels, das Brausen des Windes. Erfülle unser Leben mit deiner Freude und lass sie uns teilen mit den Menschen, die uns heute nahe sind.
Gemeinde singt: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein.
Jesus Christus spricht: "Nicht ihr habt mich ausgewählt, sondern ich habe euch ausgewählt.“ - In der Freiheit, die du uns schenkst, bist du uns nah, wir danken dir für jeden unbeschwerten Tag, den wir erleben. Lass uns unseren Frieden mit den Friedlosen, unsere Kraft mit den Kraftlosen, unser Sehnen mit denen, die ohne Sehnsucht sind, teilen.
Gemeinde singt: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein.
Jesus sagt: „Ich habe euch alles anvertraut.“ - In dem, was klein ist und in dem, was unbedeutend ist, bist du uns nah, in dem, was zufällig wirkt und im Staunen darüber. Ich danke dir Gott für deine kleinen Zeichen. Gib uns offene Augen für die Schönheit und für das, was anderen Menschen guttut. Lass uns die Freude mehren.
Gemeinde singt: Da wohnt ein Sehnen tief in uns, o Gott, nach dir, dich zu sehn, dir nah zu sein.
8. Sonntag nach Trinitatis, 07.08.2022 – Wort zum Sonntag in der Evangelischen Zeitung zum Predigttext Markusevangelium 12,41-44
Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr in den Gotteskasten gelegt als alle, die etwas eingelegt haben. Markus 12,43
Als Kind freute ich mich auf den Sommer. Wenn die Urlaubskasse gefüllt war, ging es an die See. Das war Weite und Licht, roch nach würziger Salzluft. Nach langer Fahrt kamen wir an. Wir Geschwister stürmten sofort zum Strand, rutschten die Dünen runter, kullerten durch den Sand.
Abends lagen wir glücklich in den frisch bezogenen Betten und schliefen zufrieden ein. Dass der Dünensand aus den Haaren rieselte, merkten wir erst, als es schon zu spät war. „Das ganze Bett ist sandig“, hieß es morgens. Die gute Stimmung war angekratzt.
Unsere Mutter sagte bestimmt: „Wir haben uns diesen Urlaub vom Munde abgespart.“ Ich hatte die runde Blechsparbüchse auf dem Küchenschrank vor Augen. Nach dem Einkauf steckte Mutter Geldstücke ein, „für den Urlaub“ sagte sie dann. Manchmal seufzte sie tief, saß vor einem karierten Heft, rechnete lange. Ich fürchtete dieses Seufzen und überlegte, wie wir leben würden, wenn wir arm wären. Die Geschichten der Not wurden damals noch erzählt. Ich hörte gedämpfte Stimmen durch verschlossene Türen. Vom Hunger war die Rede, von dürftigen Almosen. „Die hatten ja auch nichts“, sagte Mutter, „aber sie gaben trotzdem.“ „Wie die Witwe mit dem Scherflein“, hörte ich Oma, „mit deren letzten Groschen haben wir überlebt.“ Einige Tage später frage ich nach dieser Witwe. Mutter erzählte von dem Gotteskasten. Wir erfuhren: Wer das Letzte teilt, riskiert alles. Und dann lachte Mutter: „Ihr sollt nicht lauschen.“
Wir Kinder nahmen uns fest vor, sehr zufrieden zu sein. Wir vergaßen den Sand im Bett, der kratzte allerdings bis zum letzten Tag. Niemals mussten wir uns einen Urlaub vom Munde absparen. Aber einige Jahre vor meiner Geburt, hatte jemand seine letzten Groschen gegeben. Als Kind war ich überzeugt, dass diese Groschen meine Familie gerettet haben. Heute bin ich dankbar.
5. Sonntag nach Trinitatis, 17.07.2022 – Predigttext: 1. Mose 12,1–4a
Den Geruch meiner Kindheit habe ich in der Nase. Das Scheuerpulver roch scharf nach Chlor, die Oma nach 4711. Wenn die Haustür zuschlug, klapperte das lose Schloss und auf der Straße nagelte der Dieselmotor in einem LKW. Als ich zuhause ausziehen wollte, hatte ich Angst vor den Tränen meiner Mutter und den traurigen Augen meines Vaters. Ich ging, als beide nicht da waren, das hatten wir verabredet. Ein letztes Mal machte ich die Runde durch die Wohnung. Das Scheuerpulver, die Fla-sche 4711, die alten Geräusche. In der Magengrube aber spürte ich ein leises Ziehen, es mischte sich als wohliger Kitzel in den Abschied, ich spürte vor allem Zuversicht. Es war wie eine unbekannte Kraft, die mich in die Zukunft schob.
Alles was ich für das neue Leben brauchte, trug ich in einem Koffer und der alten Reisetasche. Auch das Büchlein mit dem „Stufen“-Gedicht von Hermann Hesse war dabei: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“
Aufbruch geht, wenn einem eine Verheißung Antrieb gibt, die verspricht Segen und lässt schon im Aufbruch ein Gelingen ahnen. Selbst die Untiefen des Lebens, die wie eine Ahnung den Aufbruch begleiten, bremsen jetzt nicht. Verheißung gehört zum Lebensgepäck, wie bei Abraham und Lot, die von Ur aufbrechen. Sie verließen die quirlige Metropole im Zweistromland und waren sich der Verheißung gewiss. Ich bin mir sicher, die Gerüche und Geräu-sche der Stadt Ur nahm er mit, aber die Verheißung war stärker. Es ist wie im Evangelium, das wir gehört haben. Die Aufforderung Jesu überwindet die Trägheit. Die verzage-den Fischer hörten: „Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“ Sie wurden nicht enttäuscht.
Damals habe ich mir beim Abschied das Hesse-Gedicht leise aufgesagt: „Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden, / Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!“
Als Anfang März in diesem Jahr die ersten geflüchteten Frauen und Kinder aus der Ukraine vor unserem Rathaus standen, ahnte ich, wie hart das für sie ist. Abschied im Jahr 2022 heißt: Heimatverlust, Männer weg, Lebenslust weg, keine Sprache mehr. In ihren Gesichtern stand keine Verheißung. Das Wort „Zeitenwende“, das der Bundes-kanzler prägte, passte. Die Gesichter der Kinder waren ohne Neugier, die Augen versuchten ein leeres Lächeln. Welche Gerüche ihnen wohl fehlen? Die kräftigen Gewürze, der Krach der lustigen Schulklasse, das Quietschen der Straßenbahn, von der Straße in der Wohnung. Es war, als wäre in der Panik der Flucht das Vertrauen auf der Strecke geblieben. Ohne Verheißung aufbrechen und in ein fremdes Land gehen? Unvorstellbar! Europa kein Friedenskon-tinent mehr? Darauf hatte ich mich immer verlassen. Gegen den Frust sagt Jesus: „Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“ Die Ermutigung Jesu aus dem Evangelium heute schiebt die Gedanken wieder in Richtung Verheißung.
Gerne hätte ich unsere Gäste aus der Ukraine nach den Gerüchen und Geräuschen gefragt. Doch ich schwieg, die Verheißung wirkte schwächlich. Das Dröhnen der Sirenen vom ersten Luftalarm hatten sie noch in den Ohren. Ver-heißung? Fehlanzeige. Abrahams Aufbruch aus der Stadt Ur bleibt aber lebendig, die Verheißung, die Gott ihm mit auf den Weg gab, ist stark. Er wird ein Segen sein.
Jetzt leben sie mit dem Krieg, Angst und Bomben. Verhei-ßungen haben es heute schwer. Zeitenwende kann nicht einfach heißen: „Wir liefern Waffen“ „Wir rüsten die Ar-mee auf“. Zeitenwende heißt auch: „Wir suchen Wege zum Frieden und schaffen Zuversicht, öffnen uns neue Perspektiven, schöpfen Hoffnung.“
Heute scheint die Verheißung zu schwächeln. Heute ist es einfacher, sich zu fürchten als Mut zu gewinnen. Man zittert schon jetzt vor dem kommenden, vielleicht kalten, Winter.
Damals, als ich jung war, schien das einfach, als junger Erwachsener las ich Hermann Hesse, fühlte mich getragen. Manchmal klingt das, als käme es aus weiter Ferne und ist schon fast vergessen: „Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen, / Er will uns Stuf´ um Stufe heben, weiten.“
Heute lese ich von Abraham, der aus der Stadt mit dem Namen Ur aufbrach. Abraham hatte eine Zusage im Ge-päck: „Geh aus deinem Vaterland und von deiner Ver-wandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.“ Ein sicheres Land, das wäre für viele Menschen schon viel. Viele Menschen, die ich kenne, sehen die Zukunft nur noch düster. Und ich sehne mich sehr nach der Verheißung und einem Wort Jesu: „Fahrt hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze zum Fang aus!“
Jesus schickt seine Jüngerinnen und Jünger dahin, wo die See tief ist und dunkel, wo die Abgründe gefährlich drohen. Das ist heute auch so. Heute höre ich die Zusage an Abraham, sein: „Geh in ein Land, das ich dir zeigen will.“ Er hat nie gesagt, dass alles leicht sein wird und einfach. Wir sind in schwere See geraten. Es gibt Zeiten mit reduziertem Mut. Und doch liegt der Duft von 4711 in der Luft und der scharfe Geruch des Scheuerpulvers meiner Mutter hängt in der Nase. Abraham hört das Zuklappen der Haus-tür, er hat diesen Aufbruch nie vergessen.
Es ist eine Zeitenwende. Wieder meldet sich so ein aufregendes Kribbeln in der Gegend des Magens, das ist wie eine Verheißung und das Bändchen mit dem Gedicht von Hermann Hesse ist auch noch da: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ Das stimmt doch noch immer.
Das, was nach diesem Aufbruch kommt, heißt immer noch Zukunft. Da ist, wie bei Abraham, nicht Untergang ange-sagt, Gott verspricht seinen Segen. Abraham ist sich in schwierigen Momenten der Verheißung sicher. Die Tür fällt ins Schloss, und es meldet sich der alte Mut und das uralte Vertrauen in ihm zu Wort. Wenn er genau hin spürt, dann ist da noch immer so ein wohliger Kitzel in der Ma-gengrube, er geht voller Zuversicht und wir auch. Mit der Verheißung bleiben wir unterwegs.
Wort zum Sonntag in der Ostseezeitung, Lokalausgabe Usedom am 04.06.2022
Wind im Lebenssegel
Die Kite Drachen jagen über den Himmel. Vom Wind getragen, gleiten die Kitesurfer über die Wellen. Vom sicheren Ufer aus kann ich das Spektakel beobachten. Dann: Ein Schirm trägt die Sportlerinnen und Sportler in die Höhe, sie segeln mit dem Wind über die Wellen und landen sanft. Ein Sprung, vielleicht fünfzig Meter weit, alle staunen. „Big Air“ heißt das, „große Luft“. „Big Air“ das sind die großen Sprünge, die im Zusammenspiel von Wind, Kite und menschlicher Geschicklichkeit entstehen. Ich habe die Kitesurf-Masters gesehen. Vor einer Woche, es war eine Vorbereitung auf Pfingsten. So ein „Big Air“ passiert am Pfingstfest.
Die Bibel beschreibt Pfingsten mit stürmischen Worten: „Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen.“ Das sorgt – in einem übertragenen Sinn - für einen „Big Air“. Denn dieses Brausen erreicht müde Menschen, die sich verzagt hinter Mauern zurückziehen. Der brausende Sturm fegt durch das Haus und setzt matte Menschen in Bewegung. Ihr Wille wird gestärkt, sie spüren eine Kraft, der sie vertrauen wollen. „Big Air“ das macht der Heilige Geist. Der durchweht sogar das müde Haus einer matten Kirche. Heiliger Geist setzt Menschen auf die Spur der Nächstenliebe. Sprachen sind keine Barriere mehr. Man versteht sich und versucht Frieden zu stiften. Mobbing ist vorbei. Gnade ist angesagt. Die Bibel beschreibt das so: „Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden.“ Das kann man beim Kiten sehen: Gottes Geist braust los und trägt über Untiefen hinweg. Da sind Dinge möglich, bei denen einem der Mund offensteht: Den Fremden die Hand zu reichen, den Streit in der Familie zu beenden, auch dann, wenn es keinen Ausweg zu geben scheint, nicht zu verzagen. Für den Frieden braucht es dringend pfingstlichen Rückenwind. Es sind ungewöhnliche Sprünge nötig, zuerst in den Köpfen der Angreifer. Ein „Big Air“, der im Frieden landet, ist mein Pfingstwunsch.
Pfingstsonntag ist Konfirmation. Die jungen Leute wagen auf ihre Art den „Big Air“. Der Segen Gottes trägt sie über die schäumenden Wellen und verleiht ihnen Kraft. Unsere Jugendliche erben manches unserer Probleme und sie stehen vor großen Aufgaben. Darum wünschen wir ihnen guten Wind und manchen „Big Air“. Mit dem Brausen von Gottes Geist im Segel des Lebens geht es Pfingsten los.
Henning Kiene, Pastor in Ahlbeck und Zirchow
Quasimodogeniti („Wie die neugeborenen Kinder“), 24.04.2022
Psalmgebet: Psalm 116,1–9.13– Lesung: Johannesevangelium 21,1–14 – Predigttext: Kolosserbrief 2,12–15
Liebe Gemeinde,
aus seiner Gefängniszelle schreibt ein Häftling einen Brief an seine Liebste zu Hause. In wenigen Tagen wird er aus der Haft entlassen werden, da er zurückkehren wird, wolle er sich versichern, ob sie ihn sehen möchte oder nicht. „Ich werde mit dem Bus kommen“, wenn sie ihn wieder sehen wolle, dann möge sie ein gelbes Band um die alte Eiche binden, die in der Mitte der Stadt steht und unter der sich die Liebenden treffen. Dann könne er schon vom Busfenster aus erkennen, ob sie ihn noch wolle, oder ob er - ohne auszusteigen - gleich weiterfahren könne. Er würden den Busfahrer bitten nicht zu halten. Sie soll das für sich und ihn entscheiden, ob sie ihm, dem Schuldigen, der drei Jahre im Knast saß, wieder begegnen wolle. Diese Geschichte erzählt ein Lied aus den 70er Jahren. Es heißt „Tie A Yellow Ribbon Round The Old Oak Tree“ – „Binde ein gelbes Band um den alten Eichenbaum“. Ein Hit, leicht zu hören.
Es geht um die Schuld. „Werde ich meine Schuld eigentlich los?“ Oder, mit dem Kolosserbrief ge-sagt: Es ist unmöglich den Schuldbrief, auf dem festgehalten ist, wieviel ich immer wieder schuldig bleibe, aus eigener Kraft zu tilgen. Es geht nicht nur um Straftaten, die einen Menschen für drei Jahre hinter Gitter bringen. Es geht um die bange Frage, ob man trotz all der Schuld, die sich im Le-ben auftürmt, eine Chance hat. Knapp: Wer tilgt den Schuldbrief mit all den Forderungen, die ge-gen einen erhoben werden können? Wie geht das gerade in Tagen des Krieges? Wer tilgt all die Schuld, die mit diesem Krieg verbunden ist. Wer löst den Schuldschein ein, der mit einem Satz Waf-fen, die an die Front geliefert werden, ausgestellt wird? Wer löst den Schuldschein ein, der mit ei-nem Satz Waffen, der nicht geliefert wird, ausgestellt wird? Wer löst das Dilemma? Alles, was wir tun, hat seine Folgen und man sieh: Nichts ist wirklich richtig, alles ist nie richtig falsch. In den Eichen-bäumen wehen in diesen Tagen keine gelben Bänder.
In dem Lied steigt er in den Bus. Die Fahrt geht los. „Wenn du kein Band an die alte Eiche bindest, dann fahre ich weiter“, heißt es, „ich bleibe ein-fach sitzen“. Denn Schuld nimmt einem das Recht auf eine Heimat. Wer will schon mit einem Schuldigen das Leben teilen? Auch das weiß der Kolosserbrief: Du, niemand kann damit rechnen, wieder willkommen zu sein. Menschen sind mit anderen Menschen eher gnadenlos. Die breiten die Schuld-scheine auf den Tisch vor dir aus. Ziegen mit ihren spitzen Fingern auf alles, was man dir vorwirft. Eng bedruckt ist der Schuldschein. Aber jede und je-der, der anderen etwas vorhält, muss wissen, es trifft einen selbst.
Gelbe Bänder werden viel zu selten an Bäume geknotet. „Fahren sie weiter“, heißt es normaler-weise im Bus und für die Schuldigen: „Keine Par-don“.
Normal ist: Alle Schuld haftet fest an deinem Le-ben. Nur der Apostel sieht das anders. Der spricht von der getilgten Schuld und beruft sich auf Gott, Gott hat alles getilgt, dafür steht das Kreuz. Klarer gesagt: Am Kreuz haftet der Schuldschein, der auf dein Leben ausgestellt ist. Das ist das ganze Leben Jesu: Den Zöllner besucht er zum Gastmahl – alle tuscheln über ihn - , der Ehebrecherin räumt er eine Chance ein – „das ist doch Verschwendung“ raunen sie hinter Jesu Rücken - , dem Feigen-baum, der keine Frucht bringt und endlich gefällt werden soll, gibt Gott noch einen neuen Sommer. Der Glaube, die Liebe, die Hoffnung binden gelbe Bänder an die alte Dorfeiche. Denn Gott tilgt den Schuldschein.
Der Bus fährt um die letzte Kurve, er weiß, dass er gleich die Eiche erreichen wird, das Herz schlägt wild, „wenn ich kein gelbes Band sehe, vergesse ich uns und unsere Liebe“, sagt er, und dann, vor der Dorfeiche heißt es „Ich kann es nicht glauben, was ich sehe“, hundert gelbe Bänder sind um den Stamm gebunden und flattern unübersehbar im Wind. Das ist, was Gott uns möglich macht: Schuldscheine, die eng beschrieben vor uns liegen, til-gen.
Kinder haben an das Kreuz unserer Ahlbecker Kirche gelbe Osterglocken gesteckt, das war vor einer Woche, am Ostersonntag. Wir sehen die wel-kenden Blüten heute noch immer. Die sind die gelben Bänder: Gott hat Schuld getilgt. Sieh ein gelbes Band flattert für dich. Und: Binde ein gelbes Band in dein Leben ein, denn Gott tilgt all diese in engen Zeilen bedruckten Schuldbriefe. Amen.
Danke an den Kollegen Mielke für das Lied.
Okuli („Meine Augen sehen stets auf den Herrn“. Aus: Psalm 25), 20. März 2022
Psalmgebet: Psalm 34,16–23– Lesung und Predigttext: 1. Könige 19,1–8
Liebe Gemeinde,
„Wenn ich nicht mehr kann, dann esse ich ein Eis.“ „Wenn ich ganz erschöpft bin, dann lege ich mich ins Bett und ziehe die Decke bis unter die Nase.“ „Wenn ich nicht mehr kann, trinke ich eine Tasse heiße Schokolade und rede mit Mama.“ Eine Frage, drei Antworten auf den Satz „Es ist genug! Ich kann nicht mehr.“ Was ist aber, wenn es kein Eis gibt, die Decke weit weg ist und niemand da ist zum Reden. Das ist übel. Und Elija erlebt solches Übel. Er hat nichts und niemanden, er hat vieles falsch gemacht. In seinem Zorn hatte er, als wäre er im Rausch, um sich geschlagen, hat ein Blutbad angerichtet. Was macht ein Mensch, der nicht mehr kann? Er wünscht sich den Tod. Elia sucht den wenigen Schatten, den die Wüste hergibt, schläft ein, er denkt an das sichere Sterben. „Herr, nimm mir doch das Leben!“ Aber der Schlaf trägt ihn fort, nicht in den Tod, in das Leben trägt der ihn.
„Es ist genug!“ Das ist der Moment, den wir gut kennen. Es ist genug der Pandemie. Es ist zu viel mit diesem Krieg. Es ist genug mit den geflüchte-ten Frauen und Kindern, denen das Lachen ab-handengekommen ist. Das Zerren der schweren Tage lässt uns seit zwei Jahren nicht locker. „Es ist genug!“ - wie oft habe ich das gedacht in den ver-gangenen Jahren. Und als neulich jemand mir in das Gesicht sagte, es gäbe doch keinen Schutz vor der Pandemie, war das wie ein Schlag in die Ma-gengrube. Wie tief sind wir gefallen, wenn Rück-sicht, die in Zeiten einer Pandemie der einzige wirksame Schutz ist, als wirkungslos bezeichnet wird.
„Wenn ich nicht mehr kann, dann esse ich ein Eis“, dachte ich. Und da lag noch ein Eis im Frost. Und dann die Erkenntnis, die der Engel Elia eingibt: „Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir!“ Oder, wie Jesus es zu dem gelähmten Menschen sagt: „Steh auf nimm dein Bett und geh.“ „Wenn ich nicht mehr kann, dann...“ Was kommt dann?
„Als Elija um sich blickte, fand er etwas neben sei-nem Kopf: Frisches Fladenbrot und einen Krug mit Wasser“ – so detailgenau erzählt es die Bibel, dass es einem genau vor Augen steht. Da liegt ein Fla-denbrot, da steht ein Krug mit Wasser. Wenn Hilfe kommt, dann ist die immer nur konkret, so konk-ret, dass wir sie uns genau vorstellen können. So konkret, dass selbst Elia, der in seinem großen Zorn größtes Unrecht getan hat, diese Hilfe erlebt. Schuld schützt uns Menschen nicht vor der Gnade.
Im Fernsehen lief der Film „Honecker und der Pas-tor“. Abgesehen davon, dass ein Sohn dieses Pas-tors in unserer Gemeinde lebt und bei uns aktiv mitwirkt, erzählt der Film, wie das Ehepaar Ho-necker Unterkunft in der Pastorenfamilie findet und - natürlich – Essen und Trinken durften, mit der Familie. Das ist die Botschaft: Auch die, die schuldig geworden sind, stehen unter dem Schutz, den das Evangelium bietet. Sogar diese men-schenverachtenden Mächtigen der DDR kommen in den Genuss des Evangeliums. Wir neigen dazu, das Evangelium auf uns, unsere Gemeinde, zu begrenzen, als wäre es ein Besitz. Aber die Erzäh-lung von Elia, das Evangelium von Jesus Christus, brechen mit unseren eigenen Vorstellungen von der guten Botschaft.
Es ist noch immer wie bei Elia, selbst die, das große Unrecht getan haben, hören das „Steh auf und iss!“ Das ist die Botschaft dieses Tages: Der Glaube stellt Brot und Wasser an die Betten der Erschöpf-ten. Er fragt nicht nach dem, was du getan hast, sondern sagt „Steh auf und iss! Denn du hast ei-nen weiten Weg vor dir.“
Wenn ich nicht mehr kann, dann öffne ich die Au-gen und sehe einen Krug Wasser und das Fladen-brot und höre: „Steh auf und iss.“ Mit dem Zählen kommt man nicht nach, wie oft denkt man, „nun kann ich nicht mehr“ und wie oft sieht man, dass man gestärkt erwacht. Jemand sorgt für uns.
Brot und Wasser, das sind gerade jetzt für die Ge-flüchteten die Lebensmittel, die wir einkaufen. Brot und Wasser, das ist die Rücksicht, die andere auf uns nehmen. Brot und Wasser, das sind die Medikamente, die dem Herzen schlagen helfen. Brot und Wasser, das ist der Nächste für mich. Brot und Wasser, das ist dieser Gottesdienst für uns alle.
Brot und Wasser, das ist wie das Eis aus dem Kühlschrank, das Gespräch mit der Mutter, die warme Decke, unter die man sich zurückziehen kann. Elia aber „aß und trank, dann legte er sich wieder schlafen. Doch der Engel des Herrn erschien ein zweites Mal. Wieder berührte er ihn und sprach: „Steh auf und iss! Denn du hast einen weiten Weg vor dir!“ Amen.
Predigt am 4. Advent 2021, 19. Dezember 2021 –
Predigttext: Lukasevangelium 1,26–38
Liebe Gemeinde, als König Eduard VIII. eine bür-gerliche Frau heiraten wollte, löste er im Verei-nigten Königreich eine Verfassungskrise aus. Der König von England und Kaiser von Indien, das Oberhaupt der Anglikanischen Kirche beabsich-tigte eine bereits zweimal geschiedene US-Amerikanerin zu heiraten. „Skandal“ hieß es. Man forderte ihn auf zu wählen: Entweder Wallis Simpson oder königliche Würden. Eduard VIII. entschied sich für die Liebe und gegen den Thron.
„Folge der Stimme deines Herzens“, heißt es. Denn auch Gott folgt seiner großen Liebe, dem Menschen. Schon als er die Welt erschuf und dem Menschen den Verstand formte und den Fingerspitzen viel Gefühl mitgab, folgte er seiner großen Liebe, dem menschlich werden.
Gott blieb, im Unterschied zum König, im Amt. Er brachte einen Engel auf den Weg zu Zacharias und er hielt zu Elisabeth. Sie ist eine uralte Frau, kinderlos. Nun, so Gottes Entscheidung, sollte ihr Kinderwusch erfüllt werden. Besser jetzt als nie. Die Nachbarschaft beginnt zu tuscheln: „Skanda-lös, so eine alte Frau, was will die denn?“ Aber alle sahen, ein Zuspät gibt es nicht. „Unmöglich“, sagten alle, wenn Gott vom Thron herabsteigt. Zacharias verstummte und der greisen Frau glänzten die Augen, sie war erfüllt von dem spä-ten Glück. Dann erwählte Gott Maria. Die war jung. „Viel zu jung für ein Kind“ tuschelten deren Nachbarn und: „Wo ist denn der Mann dazu?“ Ihr wachsender Bauch und ihr kämpferisches Lä-cheln waren unübersehbar.
„Welch Skandal,“ flüsterten die, die davon hör-ten, „was ist denn hier los?“ In dieser Frage ver-birgt sich die Feststellung, dass Gott noch einmal neu und auf ungewöhnliche Weise neu begann. Gott entledigte sich des Majestätischen. Es war wie der Verzicht auf eine Krone. Es wirkte so, als setze er der Menschheit seine Krone auf.
Mit dem Überraschenden zu rechnen, beginnt man am besten im Advent. „Denk doch mal an dein Alter“, hört eine Witwe, mit 82 Jahren hat sie noch einmal etwas begonnen. Viele Jahre war sie allein. Dann traf sie einen Mann, der ihr sehr gefiel. Beide mögen sich. Nun hat sie einen Freund,
und sie spürt, wie viel Jugendlichkeit in ihr noch immer lebendig ist. „Skandal“, flüstern die Nach-barn. Die Kinder sind „besorgt“. Sie aber spürt noch einmal das volle Leben. „Man ist niemals zu alt“, sagt sie zu ihrem etwas älteren Freund.
„Du bist doch viel zu jung“, sagt die Mutter. Sie würde es anders machen, aber ihre Tochter hat geschwiegen. Jetzt sieht man es der jungen Frau an, sie ist schwanger, dabei ist sie nicht einmal 18 Jahre alt. „Musste das sein?“ denkt Mutter und sagt es auch noch. „Mama, ich schaffe das“, hört sie ihre Tochter, „auch allein!“ Die Mutter spürt, ihre Tochter hat sich entschieden. Warum sollte sie jetzt noch etwas dagegen sagen?
Gott schickt seine Engel. Er sendet sie zu den Menschen, die auf den ersten Blick nicht würdig zu sein scheinen. „Zu alt“, „zu jung“, „zu blöde“, „zu wenig fromm“, „zu politisch“, „zu schwach“, „anderer Meinung als ich“, „gehört nicht dazu“, „ist doch neu hier“, das ist menschliche Rede. Es fallen einem immer Gründe ein, warum etwas nicht geht. „Keine Zeit“, „zu wenig Geld“, „Risiko zu groß“, „unmöglich“, hören wir und halten an allem Alten fest. Während Gott sich nicht an sei-nem alten Thron festklammert, er setzt alles auf die Karte „unmöglich ist möglich“. Krippe? Geht doch. Und: Abstieg vom Himmel, ist Gottes Ding.
Gott bleibt im Amt. Und er bietet uns gerade im Dezember viel Gelegenheit, über ihn zu tuscheln. Skandalös diese Krippe, das Stroh, mein Leben, um dort ausgerechtet hier Mensch zu werden. Gott nimmt Menschen in seinen Dienst, Frauen im hohen Alter und die ganz jungen. Männer, die verstummen, wenn sie dem ersten Engel ihres Lebens begegnen. Mütter, Väter, die von Weih-nachtsfreude ihrer Kinder überfordert sind, die allein bleiben in ihren Wohnungen und auf unse-re Hilfe angewiesen sind, auch. Auch die Einsa-men sind in Gottes Namen unterwegs und man-che sind auf uns angewiesen, dass wir vom Thron unseres Lebens absteigen. Gottes Entscheidung, sich nicht aus der Verantwortung zurückzuziehen und es trotzdem etwas anders zu machen, als wir erwarten, steht fest. „Was ist denn hier los?“ fragen wir und der Engel hat seine „fürchtet euch nicht“-Botschaft für uns bereit. Amen.
Predigt am Sonntag Erntedank, 3. Oktober 2021
Psalmgebet: Psalm 104,1a.10–15.27–30.33 – Evangelium: Markus 8,1-9
Liebe Gemeinde, „manchmal bin ich ganz müde“, sagte das Wort Danke. Es war eingeladen zum Kongress der Worte, eine Weltversammlung aller Wörter. Das war ein interessanter Kongress, denn es waren auch die ausgestorbenen und vom Aussterben bedrohten Wörter eingeladen. Man traf die Lindigkeit und die Wonne, das Fräulein und die Droschke.
„Wenn es so weitergeht, dann gehöre ich eines Tages zu euch“, seufzte das Wort Danke. Es sah in die grauen Gesichter, die Wonne hatte tiefe Falten, nur der Lindigkeit sah man den Glanz ver-gangener Tage noch an. „Ich komme auch bald hier an“, sagte das Danke laut. Es sah in blasse Gesichter, sie schweigen, seit Jahrzehnten schon.
Da traf das Danke das Bitte. Auch das Wort Bitte sah nicht mehr so jung aus. „Man kommt aus der Mode“, meinte das Bitte. „Sag ich ja“, erwiderte das Danke. „Vielleicht sollten wir von uns aus ganz verschwinden, damit alle merken, was pas-siert, wenn wir nicht mehr da sind“ brummelte das Danke laut vor sich hin. Gesagt, getan. Von einem Tag auf den anderen ist es weg.
Kein Danke mehr und das international, kein Thank you, kein Gracias, kein Merci, kein Dziękuję. Das Bitte machte das nicht mit. „Du weißt ja gar nicht, was du anrichtest!“ sagte es zum Danke, „du zettelst Unheil an.“ Aber das Danke hatte die Lindigkeit vor Augen und die Wonne, nein, diesem Schicksal wollte es zuvor-kommen. Die Menschen würden schon merken, was ihnen fehlt. Das Danke schwieg fortan und bezeichnete – sicherheitshalber – das Schweigen als Warnstreik. Und – das überraschte das Danke – die Menschen bemerkten das Schweigen des Dankes nicht.
Im Supermarkt an der Kasse, niemand stockte, im Gegenteil, es wurde noch mehr gedrängt. Jemand schob den Einkaufswagen einfach wei-ter, natürlich mit mürrischem Gesicht. In der Apotheke, beim Arzt, im Impfzentrum, auf dem Markt, an der Rezeption im Hotel, im Lehrerzim-mer, am Arbeitsplatz, sogar auf dem Schulhof, das Danke war weg und kaum jemand vermisste etwas. Man spürte aber, dass hier etwas nicht mehr stimmte. „Früher hatten wir mehr Zeit“, „wir sind so kurz geworden“, „warum sind alle so unfreundlich?“, „Alles wird immer wilder“, man bemerkte, die Veränderung aber warum es an-ders war, blieb unklar. Es war jetzt einfach so, als hätte es das Danke niemals gegeben. Es war kein Gracias und kein Dankgebet wurde gesprochen.
Unser Danken hat einen Ursprung im Glauben. In den Psalmen kann man das nachlesen. Und: Wo Jesus ist, mehrt sich unter dem Dankgebet, das er spricht, das Brot. Statt sieben, werden viertau-send Menschen gesättigt. Wo Dank ist, da erle-ben wir solche Überraschung, dass das Wenige, das manchmal man hat, für sehr Viele reicht.
Als das Bitte merkte, was das Danke anrichtete, ergriff es die Initiative. Das war nicht ganz uneigennützig, denn es spürte, wie es unfreiwillig dem Danke folgen würde, denn ohne Danke gerät auch das Bitte in Vergessenheit. Es suchte das Danke persönlich auf. Das saß schweigend in der Ecke, war schon ganz fahl, die Haare hingen wie Spinngewebe über die Schultern. Kurz: Es hatte sich verrannt, das wusste es. Dieser Streik ist von Übel, es roch nur noch nach Hektik und Unfriede.
Entkräftet sah es dem Bitte in die Augen. „Du hattest Recht“, sagte es mit schwacher Stimme, „ich wollte mit dem Kopf durch die Wand.“ Und es beendete sein Schweigen. Und mit jedem „Danke“ kehrte etwas zurück, das niemand richtig vermisst hatte, das aber allen fehlte. Zufriedenheit, Lächeln, ein Moment mit dem Blick in die Augen der anderen. Jemand kurbelte das Fenster seines Autos herunter, die Gespräche begannen neu.
Das war an einem Tag im Oktober, die Menschen trafen sich, um zu danken. In Halle feierten sie 32 Jahre Deutsche Einheit, in Ahlbeck/Zirchow aber hatten sie an diesem Tag ihre Kirchen geschmückt und staunten und dankten: Gott sei Dank, es ist der Tag und alle sagen Danke.
ZDF-Fernsehgottesdienst von der Konzertmuschel an der Promenade im Seebad Ahlbeck, Sonntag 8. August 2021 im ZDF:
Predigt Landesbischöfin i.R. Dr. Margot Käßmann
Liebe Gemeinde,
„sorget nicht“ das passt zum Urlaubsgefühl vieler Menschen. Sie wollen durchatmen, loslassen und die Tage ohne Terminplanung, ohne Druck frei genießen. Hier auf der wunderbaren Insel Usedom. Aber auch an allen anderen Ferienorten der Welt. Gerade in diesem Jahr, nach all den Einschränkungen, der Sorge um die Älteren, den hohen Sterbezahlen, der täglichen Frage nach den Inzidenzwerten und der Flutkatastrophe im Westen Deutschlands haben viele das tiefe innere Bedürfnis: Es soll bitte mal einfach alles gut sein! Endlich, endlich Urlaub! Weg von Homeoffice, Wechselunterricht und schlechten Nachrichten. Hier am Strand Freiheit fühlen, Sand unter den Füßen, Weite im Blick aufs Meer. Wunderbar.So kann unsere Seele Frieden finden.
Ich kenne das von mir selbst. Seit zehn Jahren bin ich regelmäßig auf der Insel. Einmal kam ich hier an mit Magenschmerzen, Druck auf der Seele, Unruhe, wie es weitergehen kann. Als ich dann am Strand losgeschwommen bin, habe ich mehr und mehr loslassen können. Sorg dich nicht, es wird einen Weg nach vorn geben. Wenn Gott so Schönes geschaffen hat, wird es auch für dich den nächsten Schritt geben. So kann ich die Worte Jesu gut nachvollziehen: Schau doch die Vögel an, die großartige Natur und lass los, was dich bedrückt. Vertrau darauf, dass Gott da ist. Jeder Mensch braucht Aus-Zeiten und Kraftquellen. Selbst Gott ruhte, so erzählt es die Bibel, am siebten Tag der Schöpfung. Gott schaute an, was neu erschaffen war und dachte, es sei doch alles sehr gut. Wir wissen, dass die Krankheit Burn-Out entsteht, wenn Menschen keinen Rhythmus mehr finden zwischen Schaffen und Ruhen, sie nicht mehr zu sich selbst finden im Hamsterrad von beruflichen und familiären Pflichten. Tage des Luftholens, der Sorg-losigkeit tun unserer Seele gut. So kann sie Kraft schöpfen für den Alltag.
Wir sehnen uns nach Urlaub, weil wir spüren: Das brauche ich. Wir freuen uns darauf, einmal auszuatmen, rauszukommen aus Hektik und Trott. Zeit zu haben für uns selbst, für unsere Liebsten und ja, für die Seele. Oder wir freuen uns darauf, etwas anderes zu sehen, einfach mal rauszukommen.
Auf jeden Fall gilt: Urlaub kann für uns Kraftquelle werden.
Aber „Sorget nicht“ kommt auch ein bisschen lebensfremd daher, oder? Es gibt doch schlicht kein sorgenfreies Leben! Gerade erst im letzten Monat ist uns allen gemeinsam wieder bewusst geworden, wie fragil das Leben ist. Da werden Menschen, Häuser, ganze Existenzen von jetzt auf gleich weggespült. Wasser ist nicht immer freundlich, sondern kann auch zur Gefahr werden. Das wissen auch die Menschen, die hier am Meer leben.
Aber ist Jesus wirklich naiv? Er geht da mit seinen Begleiterinnen und Begleitern durch die Felder, sagt: Schaut euch die Blumen an, die sind doch herrlich, die Vögel, sie alle leben von Tag zu Tag, einfach so. Ohne Sorgenfalten, ohne Ängste. War ja auch einfach, oder? Er hatte keine Familie, keinen Arbeitsplatz, kein Haus musste sich also um nichts sorgen. Das macht es leicht, so daherzureden…
Und doch wissen wir, dass Glück im Augenblick entsteht, so wie Jesus das beschreibt. Glück ist kein Dauerhoch, sondern Momentaufnahme. Der Blick auf das Meer. Die Hand, die uns der Partner spontan reicht. Ein tiefes Einatmen. Das Lächeln über das Spiel der Kinder oder Enkel. Oder eben der Blick auf eine Möwe, auf eine Sonnenblume am Wegesrand.
Das langfristigere Hochgefühl ist die Zufriedenheit. Aber Zufriedenheit hat keine Chance, wenn wir ständig mit der Vergangenheit hadern oder ununterbrochen überlegen, was Morgen sein wird. „Kreisende Gedanken, die sich in der Regel auf die Vergangenheit oder Zukunft beziehen, nennt die Psychologie „ruminierendes Denken“ (Susie Reinhardt in Psychologie heute).
Es geht um Denkschleifen, in denen wir nicht loslassen können, was uns nicht gelungen ist. Oder Schleifen, in denen wir ständig überlegen, was demnächst schiefgehen könnte. Das kann ungeheuer belastend sein. Damit verheddern wir uns geradezu in unseren Lebensängsten. Und es ist ja auch nicht wirklich hilfreich. Wir können die Vergangenheit nicht ändern. Wir müssen lernen, mit eigenen Fehlern, aber auch mit Verlusten, mit Enttäuschungen zu leben. Die Zukunft können wir nicht bestimmen. Wir werden sie erleben und bewältigen müssen.
Eine junge Frau sagte mir kürzlich: „Ich vergesse manchmal in all dem Alltagstrubel wie gut mein Leben ist. Ich kann so dankbar sein für alles!“ Das ist Lebenserkenntnis: Vergiss nicht, was dir Gutes widerfährt. Und ein älterer Mann sagte: „Wenn ich damals gewusst hätte, dass ich heute so glücklich bin, wäre ich damals doch gar nicht derart unglücklich gewesen!“ Das ist Lebenserfahrung. Es kann sich alles ändern.
Wir sorgen uns ja um Morgen, weil wir ganz tief in uns wissen, wie schnell alles zerbrechen kann. Ein Autounfall, eine Krebsdiagnose, eine Naturkatastrophe – und schon zerbricht die Alltagswelt von einem Moment auf den anderen. Nicht wir, sondern die Rettungskräfte, die Arzttermine, die Behandlungsfrequenz bestimmt unser Leben.
Ich denke an einen jungen Mann. 23 Jahre, er bricht gerade auf ins Leben. Die erste richtig gute Stelle, glückliche Beziehung, Heiratspläne. Er freut sich am Leben und auf die Zukunft. Und dann wird wahrhaftig aus heiterem Himmel eine lebensbedrohliche Erkrankung diagnostiziert, die alles Planen infrage stellt. Mit ihm selbst erschrecken alle, die ihn lieben. Die Eltern und Geschwister, die Partnerin, Freundinnen und Freunde. Und es ist furchtbar, da lässt sich nichts schönreden. Aber er lebt HEUTE. Er will nicht jeden Tag denken: Wie lange noch? Das macht das Leben unerträglich. Und im Grunde sagt Jesus genau das: Es genügt, dass jeder Tag seine eigene Plage hat. Schau auf das, was gut ist. Lebe HEUTE.
Das allgemeine Wissen, dass der Mensch sterblich ist, ist auch eine sehr persönliche Nachricht. Wir verdrängen sie meist lieber. Aber wenn wir sie ernstnehmen, kann uns das im Grunde aus dem Kreislauf ständiger Zukunftsplanung befreien hin zu einer Haltung, wie Jesus sie beschreibt. Das Leben ist kostbar. Sieh das Gute, das Kostbare. HEUTE. Jetzt.
Wir alle auf der ganzen Welt haben erlebt, dass eine Pandemie das Leben von heute auf Morgen völlig umkrempelt. Niemand hat sich doch vorstellen können, dass plötzlich alle Flüge storniert wer-den, niemand mehr Bahn fährt, keine Urlauberinnen und Urlauber mehr hierher auf die Insel dürfen. Alle Planungen für Morgen wurden ausgehebelt. Die Steuerung unseres Lebens wurde durch Verordnungen, Vorgaben, Verbote bestimmt. Das hat verunsichert, Ängste ausgelöst. Viele Alte mussten in Einsamkeit sterben, viele Junge haben die Lust am Leben verloren. Manche hat es auch dazu gebracht, von irgendwelchen finsteren Mächten zu reden, die da am Werke seien.
Kann eine solche Erfahrung auch Positives mit sich bringen? Viele Menschen sagen, sie hätten in der Pandemiezeit gelernt, mehr aufeinander zu achten und wollten auch in Zukunft achtsamer sein. Das wäre bei aller Belastung doch auch ein Gewinn.
Lange haben wir uns über Touristen aus Asien mokiert, die mit Maske umherliefen. Sie tun das aus Höflichkeit, wenn sie einen kleinen Infekt haben, um andere keinesfalls anzustecken. Inzwischen haben wir alle das Leben mit Maskenpflicht gelernt.
Wir haben eben im Gottesdienst gehört, wie belastend die Einschränkungen der Bewegungsfreiheit nicht nur für diejenigen waren, die nicht hierherreisen durften, sondern auch für diejenigen, die in Gastronomie, Hotellerie und der Tourismusbranche insgesamt um ihre Existenz bangten und noch bangen. Ich erlebe manchmal, dass Urlauberinnen und Urlauber Einheimische nicht wertschätzen mit ihrer Dienstleistung und Einheimische genervt sind von ihnen, wohl wissend, dass die Insel im Touris-mus die zentrale Einnahmequelle hat. Dabei ist klar, dass Touristen für Einheimische auch eine Belastung darstellen können. Wer auf Usedom lebt und jeden Tag von Zinnowitz nach Heringsdorf zur Arbeit fahren muss, kann verzweifeln, weil auf dieser Straße in der Hochsaison oft gar nichts mehr geht. Eine Kassiererin im Lebensmittelladen sagte mir: „Ach Frau Käßmann, ich dachte, die Urlauber freuen sich, dass sie wieder kommen dürfen auf unsere schöne Insel. Aber irgendwie haben alle schlechte Laune, das macht das Leben echt nicht besser.“ Achten wir aufeinander, gerade auch im Urlaub. Geben wir Freundlichkeit und Dankbarkeit weiter. HEUTE.
Jesus ermutigt uns, loszulassen. Das kann für die Urlaubszeit ein hilfreicher Rat sein. Es heißt ja, Urlaub bedeute Familienleben unter erschwerten Bedingungen. Und das erleben auch viele so. Im Alltag haben die Eltern ihren Beruf, die Kinder Kita oder Schule. Begegnungen sind begrenzt auf Mahlzeiten und Wochenende. Auf einmal hocken alle von morgens bis abends aufeinander, im Zelt, in der Ferienwohnung, in der Pension - und es gibt Streit. In der Pandemie war das ja auch so. Homeoffice, Homeschooling und geschlossene Kitas haben Familien extrem belastet.
Wenn die Seele Luft schnappen soll, brauchen wir auch mal Zeiten allein. Und einen Blick: Es ist doch gut mit uns. Ich hab dich ja lieb. Eine ausgestreckte Hand. Ein Kuss. Ein zärtlicher Blick. Wertschätzung füreinander und Dankbarkeit, dass wir einander verbunden sind. Der Urlaub kann auch eine Zeit sein, das wieder einzuüben.
Versuchen Sie mal, zu lächeln, wenn der Sohnemann wieder den Ketchup überall verteilt, die Enkelin nervt, weil sie zum Hüpfburgenland will, es der Mama schon wieder zu kalt ist und der Papa unbedingt Fußball gucken will. Lassen wir es gut sein, HEUTE.
Wir haben das Leben nicht im Griff. Die Bilder von der Zerstörung an der Ahr haben uns das eindrücklich wieder vor Augen geführt. Jesus fragt: „Wer ist unter euch, der seiner Lebenslänge auch nur eine Elle zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?“, fragt Jesus. wir brauchen Vertrauen in andere Menschen, in das Leben, ja ich würde sagen: Vertrauen in Gott.
Urlaub ist eine Möglichkeit, sich das bewusst zu machen. Menschen können wieder zu sich selbst finden. Fragen: Was ist mir wichtig im Leben? Und wer, welche Beziehungen? Wie will ich mein Leben ausrichten, wenn ich mir klar mache, wie begrenzt es ist?
Ich empfinde die Worte Jesu als Einladung, zu vertrauen. Er selbst hat nicht absolut unbeschwert dahingelebt wie die Karikatur eines 68er Hippies. Ihn hat ausgezeichnet, dass er sein Leben Gott vollkommen anvertraut hat. Er selbst hat gehadert mit seinem frühen Tod. Am Ende aber hat er gesagt: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46). Dieser Satz beschreibt wohl das tiefste Vertrauen: Das eigene Leben über den Tod hinaus zu sehen in Gottes Hand. Es ist ein Vertrauen, das die Sorgen dieser Welt in eine andere Kategorie einordnet. Sie tun weh, sie treiben uns um.
Aber gehalten sind sie von der Liebe Gottes, die größer ist als diese Zeit und Welt. Das hoffen wir. Und deshalb können wir all unser Sorgen immer wieder Gott anvertrauen und frei leben. HEUTE.
Amen.
2. Sonntag nach Trinitatis, 13. Juni 2021 :
Psalmgebet: Psalm 36,6–10 – Lesung: Lukasevangelium 14,16–24
Predigt zur Jahreslosung 2021:
Jesus Christus spricht: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! Lukas 6,36
„Was du heute kannst besorgen, verschieb es nicht auf morgen“, sagte unsere Mutter mit strengem Ton. Und sie war da unnachgiebig. Gerade vor den großen Ferien. Alles musste so sein, dass wir es nach den Ferienwochen wieder in die Hand nehmen konnten. „Euer Kopf soll frei sein“, meinte sie. Ob dieser Erziehungsversuch geglückt ist, weiß ich nicht, aber diese Einstellung: Tue sofort, was nötig ist zu tun, die hat uns geprägt. Und wenn ich höre, „ich muss noch eben mal“ oder „ich habe doch eben erst“, dann spüre ich eine gewisse Ungeduld. Denn die Gegenwart zählt und nicht die Zukunft.
Wenn Jesus vom Reich der Himmel spricht, dann zielt er in die Gegenwart. Dieses Himmelreich, zu dem er einlädt, duldet keinen Aufschub und erst recht keine Absage, „Ach du, mein Kopf ist noch nicht frei dafür“, oder: „nicht ich, die anderen zuerst.“ Oder Sätze wie die: „Wo kämen wir hin, wenn am Anfang immer die Barmherzigkeit und am Ende immer noch die Barmherzigkeit stünde?“ Das klingt alles nach Aufschub, Aufschub aber wäre Zeitverlust für Gottes Reich. Denn Jesus geht hier von einer Balance aus: Wenn Gott barmherzig ist, dann natürlich im selben - zweifellos verkleinerten - Maßstab auch wir. Darum sprechen und singen wir heute von den sieben „Gaben“ der Barmherzigkeit. Weil Gott sie in die Waagschale legt und wir legen unsere dazu. Siebenfach: die Hungernden speisen - den Dürstenden zu trinken geben - die Nackten bekleiden - die Fremden aufnehmen - die Kranken besuchen - die Gefangenen besuchen - Tote begraben. Und Gott mutet seiner Gemeinde nichts zu, was er selbst nicht auch für sich in Anspruch nimmt.
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! - Gott offenbart sich als der Gott, der das Leben und das Reich der Himmel nicht in die ferne Zukunft verschiebt, sondern in die Gegenwart hineinträgt. „Kommt her“, sagt er. Und wenn wir es nicht sind, die diese Einladung annehmen, dann sucht er eben andere und holt die dazu. Gott ist jetzt barmherzig und legt uns diese sieben Gaben jetzt an das Herz, weil sie jetzt seinem Herzen entspringen.
Früher sprach man gerne von Utopien, von idealen Räumen zum Leben, die sich in der Zukunft eröffnen würden. Man träumte von Modellen einer besseren Gesellschaft, versprach sich technische Antworten auf die aufgeschobenen Fragestellungen der Gegenwart. Dieses Träumen von einer besseren zukünftigen Welt, ist uns fremd geworden. Die Gegenwart drängt uns zu sehr und die Skepsis, dass wir zu viele unserer Aufgaben in die Zukunft verschieben.
Die Krise der letzten Monate macht deutlich, dass sich immer weniger aufschieben lässt. Jetzt müssen Impfstoffe geteilt werden, jetzt müssen wir die Kinder schützen, jetzt braucht es weniger lautes Geschrei, mehr Fairness, vertiefte Rücksicht. Letzte Woche standen wir hier auf diesem Platz. Da kam ein Mann, bat um Essen. Und da zog, während wir noch in unseren Taschen rumkramten jemand einen 20 Euro Geldschien aus der Tasche. „Für dich“, spontan, ungeplant. So geht das, dachten wir alle. Da kommt dieses wunderbar alte Wort von der Barmherzigkeit wie so eine Erinnerung an Gott gerade recht. Denn Glaube ist die Einsicht in Gott, er zeigt die sieben Gaben der Barmherzigkeit. Und Glaube lebt von dem Nachmachen und nicht vom Aufschub. Denn: „Was du heute kannst besorgen, verschieb es nicht auf morgen.“ Amen.
Pfingsten 2021 – Konfirmation – 23. April 2021:
Psalmgebet: Psalm 118 - Lesung: Apostelgeschichte 2,1-21
Predigt: Liebe Gemeinde, eine Corvette in der Basisversion C7 ist ein Auto mit bis zu 466 PS Leistung. Der neue Scania 770 S Truck bringt 770 PS auf die Straße. Um aus der Atmosphäre Richtung Mond starten zu können brauchte die Apollo-Mission 160 Millionen PS. Wieviel mehr an PS setzt Gott ein, um unsere Welt zu erschaffen und zu erhalten? Solche Gespräche haben wir auf unserer Bank hier vor unserer Ahlbecker Kirche geführt. Mit unterschiedlichen Kindern, wir haben auch Erwachsene eingebunden und endeten bei der Energie, die in schwarze Löcher führt. Und dann war uns ganz schwindelig. Wir mussten in die Bäume sehen, um wieder in die Gegenwart zurückzufinden.
PS, Pferdestärken, sind definiert als die Leistung, die auf der Erde zum Heben einer Masse von 75 Kilogramm innerhalb eines Zeitraumes von einer Sekunde um eine Höhe von einem Meter nötig ist. Wieviel solcher Stärken hat Gott in den heutigen Tag gesteckt? Seine Kraft wird Pfingsten gefeiert. Man sagt Pfingsten sei das Fest der Ausgießung des Heiligen Geistes, so etwas, wie der Geburtstag der Kirche. Das klingt planbar, messbar, nachvollziehbar, als würden wir etwas routiniert abfeiern.
Aber das Rauschen des Geistes, das Wehen, das Feuer, diese Entmischung des babylonischen Sprachgewirrs, dieses vom Glauben bewegte Reden, das bringt dann doch mehr, eine große, eine überbordende Kraft in das Spiel. Plötzlich aufkommender Glaube an Jesus Christus, eine bedingungslose Hinwendung zu Gott und zum nächsten Menschen setzt ein. Da hebt Gott aus der trägen Masse des Lebens heraus: Menschen, die glauben können, Leute, die reden können und verstehen wollen. Pfingsten hat mehr Leistung als der Start einer Weltraumrakete. Und wir feiern Konfirmation, feiern euren Start in das Leben, dagegen ist ein Raketenstart ein Klacks. Die Bibel spricht in kräftigen Tönen, nicht leise, sondern laut ist Pfingsten. Oder: Es geht um den Heiligen Geist, der uns auf die Straße unseres Lebens bringt.
Wieviel PS hat ein starker Sturm? Der Glaube hört in ihm, wie Gott noch immer als Schöpfer wirkt. Unmessbar die Leistung, wenn wir uns hier unter freiem Himmel versammeln, das Rauchen der Blätter hören. Wieviel Pferdestärken setzt er ein, dass ein Herz schlägt, ein Kopf denken kann, wieviel Energie setzt ein Lachen frei? Gottes Geist setzt Leistung frei. Diese jungen Leute heute, Konfirmandinnen und Konfirmanden, eben waren sie noch Kinder, klein, plötzlich sind sie fast schon erwachsen. Eben noch liefen sie auf ihren kurzen Kinderbeinen herum, staunten und übten erste Worte. Jetzt schon suchen sie das eigene Abenteuer, steigen auf eine Simson, lesen komplexe Bücher, wollen noch mal eben auf den Turm unserer Kirche klettern, wollen das Leben genießen. Und wir, die Eltern und Großeltern, wir ganz Erwachsene hören euch gerne zu, reden mit euch, hoffen bangen und beten für euch. Ihr bekommt alle unsere Schubkraft mit in das Leben. Und wir wissen, dass Gott seine PS oft ganz leise und behutsam, ganz sanft, aber voller Kraft auf die Straße eures Lebens bringt.
Und dann spotten die Leute: „Die haben zu viel süßen Wein getrunken!“ und wischen das, was Gottes Geist schafft, einfach mal eben mit einer Handbewegung vom Tisch. „Zu verrückt!“ rufen sie, weil es da anders zugeht, andere Kräfte wirken als sonst. Es gibt Menschen, die wissen nicht, was Pfingsten ist. Wir aber hören, wie hier Gott seine Kraft in das Leben einbringt. Wir saßen auf der Bank vor der Kirche, von all den PS und den gewaltigen Urkräften kann einem schwindelig werden. Und dann schilpten die Spatzen und Sonne und Regen wechselten sich ab und da ist so viel PS im Leben. Offenbar bringt Gott mit seinem Geist einiges auf den Weg. Wir feiern das mit dieser Konfirmation. Amen
Kantate – #musikverbindet – 2. Mai 2021
Evangelium und Predigttext:
Als Jesus schon nahe am Abhang des Ölbergs war, fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme über alle Taten, die sie gesehen hatten, und sprachen: Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe! Und einige von den Pharisäern in der Menge sprachen zu ihm: Meister, weise doch deine Jünger zurecht! Er antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien. Lukas 19,37–40
Predigt:
Liebe Gemeinde,
als vor zwei Jahren Notre Dame in Paris in Flammen stand und das Feuer aus dem Dach der Kathedrale rot leuchtete, strömten die Menschen auf die Straßen. Sie wollten nicht glauben, was sie sahen. Und draußen auf den Straßen hörten sie das Wüten des Feuers und das Seufzen der brennenden Balken und das Bersten der Steine. Es klang – so sagten es Zeugen – als riefe der ganze Bau um Hilfe.
Steine können, so dachten damals viele, tatsächlich schreien. Und man sieht das auch, wenn man Gebäude sieht, die in Schutt und Asche versinken. Steine können schreien. Als aber die Steine in Paris brachen, da begannen die Menschen in Paris zu singen. Im säkularen, laizistischen Staat öffneten sie Ihre Münder, sangen – so erinnere ich es – die einfachen Gesänge aus Taizé. Auf den Straßen, am Ufer der Seine rund um die Kirche sangen und beteten auch die Menschen, die von Gott schon lange nichts gehört hatten.
Es war, als wollten sie Jesu Drohung einfach widerlegen: Wenn die Steine zu schreien beginnen und ein Wehklagen anstimmen, dann werden wir nicht schweigen. Es war wie bei den Jüngerinnen und Jünger Jesu, die mit lauter Stimme die Taten loben, die sie gesehen haben und singen: „Gelobt sei, der da kommt, der König, in dem Namen des Herrn! Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!“
Es sind häufig solche Tage, wie der Tag, an dem aus Notre Dame lichterloh die Flammen schlugen, an denen die Zunge nicht trocken am Gaumen kleben will, sondern singen möchte. Aus Erschütterung, aus Protest oder weil sich die Hoffnung auf den, der da kommt im Namen des Herren, selbst im Untergang bestehen will.
Als im letzten Jahr immer deutlicher wurde, dass das Singen die Verbreitung der Pandemie vermutlich beschleunigt, wurde unser Gesang leiser. Es gab sogar Protest Einzelner, als wir noch gemeinsam sangen. Ich hörte, uns würde doch nichts fehlen, wenn wir die kurze Zeit bis zum Ende der Pandemie den Gemeindegesang aussetzten. Später wurde er ganz verboten. Und es ist wie bei Notre Dame, je länger, je heftiger die Pandemie läuft, umso größer wird die Sehnsucht nach selbst gemachter Musik. Nun singen und musizieren wir viel mehr bei uns zu Hause, das ist schön. Auch unter freiem Himmel und mit großem Abstand unsere Stimmen zu erheben, ist schon besser als das Schweigen. Ich singe selbst bei Eiseskälte bei vielen Geburtstagsbesuchen. Und das hat alles auch etwas von Paris, Widerstand gegen den Untergang. Man will nicht, dass die Steine zu schreien beginnen und Gottes Lob übertönen.
Unsere Kantorin wird gefragt: „Wann singen wir wieder?“, „wann beginnen die Proben?“, „haben Sie noch ein Instrument?“, „wie sollen wir in dieser Zeit allein richtig üben?“ Wenn all das Interesse der letzten Monate anhält, wenn all das Wünschen und das Drängen nach gemeinsamem Gesang, wenn all unser Bedürfnis nach gemeinsamen, nahen Erlebnissen wirklich echt ist und auch anhält, dann steht unsere Kirchenmusik und unsere Kirchengemeinde vor einem Neuanfang. Wir wollen alle nicht, dass die Steine schreien, oder diese Kirche stumm als steinernes Denkmal dasteht. Wir wünschen sehnsüchtig, dass die Menschen singen und Gott loben, weil es viel zu loben gibt. Wir ähneln den Frauen und Männern in Paris, wir sehen nicht stumm dem Untergang und dem Handwerk der Feuerwehrleute, der Pflegekräfte, unseren eigenen Bemühungen um Auswege aus der Not zu. Wir sind wie die Menge der Jüngerinnen und Jünger Jesu, sie sehen die Taten Gottes und wissen selbst in der großen Not, was zu tun ist: Loben, Danken, Preisen. Sie lassen nicht einfach, wenn es dann mal schwierig wird, die Steine für sich schreien, sie halten dem Glauben die Treue. Denn Musik verbindet.
Wenn die Beschränkungen dann – hoffentlich im Sommer – nach und nach aufgehoben werden, wird ein Ruck durch uns hindurchgehen und die Münder werden wir wieder weit öffnen und aus voller Kehle werden wir singen und mit großen, wachen Ohren auf die Orgel und die Instrumente hören. Wir werden nicht den Steinen das Singen übertragen. Im Gegenteil, wer sich abgewendet hat, wird sich wieder zuwenden. Denn wie an der Seine in Paris, so auch an der Ostsee: „…fing die ganze Menge der Jünger an, mit Freuden Gott zu loben mit lauter Stimme.“ Amen.
Kyrie-Gebet und Wochengebet:
Die Steine sollen nicht schreien im trockenen Acker, sondern fruchtbarer Regen soll über unser Land kommen. Erbarme dich, du Schöpfer. Kyrie eleison, Herr, erbarme dich.
Die Klage soll nicht bleiben, das Seufzen und Stöhnen, sondern ein Wunder soll sich in unserer Mitte ausbreiten. Erbarme dich unser. Christe eleison, Christus, erbarme dich.
Die einsamen Stunden, die Not der Verlassenen soll nicht bleiben, sondern das Wort, das uns verbindet soll seine Melodie entfalten. Erbarme dich unser. Kyrie eleison, Heiliger Geist erbarme dich.
Unser Gott, lass uns wieder singen und deine Wunder preisen, weil wir deine Zeichen sehen, auch in schwerer Zeit, dein Wort hören, deinem Gebot und den Zeichen deiner Gegenwart folgen, denn du sorgst für uns in Zeit und Ewigkeit. Amen.
Fürbittengebet
Singen möchten wir dir, mit lauter und fester Stimme, dich preisen für deine großen Taten. Aber unsere Stimmen sind leise geworden und drohen zu verstummen. Höre uns Gott, höre unsere leisen Lieder vom Vertrauen und der Hoffnung. Höre unsere Posaunen und Orgeln, vernimm unseren Dank und unser sehnsüchtiges Flehen. Den Kranken sei nahe, die Sterbenden schütze, die Trauernden hülle ein in deinen Trost. Die Friedfertigen stärke, den Verkniffenen schenke ein Lächeln, uns alle erhalte, wenn wir dich preisen mit unserer Stimme.
Ostern 2021, 4. April 2021
Markusevangelium 16,1–8 „Als aber der Sabbat vorüber war und der erste Tag der Woche anbrach, kamen Maria Magdalena und die andere Maria, um nach dem Grab zu sehen. Und siehe, es geschah ein großes Erdbeben. Denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und wälzte den Stein weg und setzte sich darauf. Seine Erscheinung war wie der Blitz und sein Gewand weiß wie der Schnee. Die Wachen aber erbebten aus Furcht vor ihm und wurden, als wären sie tot. Aber der Engel sprach zu den Frauen: Fürchtet euch nicht! Ich weiß, dass ihr Jesus, den Gekreuzigten, sucht. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagt hat. Kommt und seht die Stätte, wo er gelegen hat; und geht eilends hin und sagt seinen Jüngern: Er ist auferstanden von den Toten. Und siehe, er geht vor euch hin nach Galiläa; da werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt.
Predigt: Liebe Gemeinde, es waren fast nur Frauen, die die Gräber richteten, so sah man es früher und gelegentlich heute noch auf den Friedhöfen. Mit den kleinen Geräten in der Tasche, einer Kanne für das Wasser in der anderen Hand kamen sie in den Tagen vor Ostern. Wie schon einst Maria Magdalena und die andere Maria kamen, um nach dem Grab zu sehen. Aus dem winterruhigen Friedhof machten sie eine Blumenwiese. „Frauensache“, so wirkte das Ganze. Als träten sie in die Ostergeschichte ein, spielten nach, was seit Jahrhunderten die Bibel vorerzählt. Männer kamen erst später dazu, in den letzten Jahrzehnten erst. Was haben wir Männer alles verpasst?
Was wohl wäre, wenn der Engel des Herrn vom Himmel herabkäme, hinzuträte, den Stein wegwälzte und sich daraufsetzte? Das wäre der Moment, in dem einige in die Friedhofssatzung sehen würden: „Beseitigung eines Grabsteines“ würden sie suchen. „Nicht erlaubt“, würden sie sagen. Paragraf 24 vorlesen „Grabmale dürfen … nur mit Genehmigung des Kirchengemeinderates entfernt werden.“ Ostern räumt etwas bei Seite. Nimmt die Grabverriegelungen bei Seite, die tonnenschwer und scheinbar für alle Ewigkeit auch auf der Seele lasten.
Ostern rollt die Steine bei Seite, die der Tod, oft schon zu Lebzeiten, über uns legt. Die einen sagen: „Tot ist tot“ wir sagen: „Wir glauben an die Auferstehung der Toten“. Die einen sagen: „Jeder ist sich selbst der Nächste“, wir sagen: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Die einen sagen: „Es geht sowieso nur um das Geld“, wir sagen: „Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“.
Jesus hat das einfach verschoben: Von den Lösungen, die nur einen Gewinner kennen, zu dem, was allen dient. Im Leben anders zu sein als andere leben, das beginnt mit dem Glauben an den Auferstandenen, mit Jesus Christus. Die einen sagen: „Ich glaube nur das, was ich sehen kann“, wir sagen: „Wir sehen, denn wir glauben“ und der Engel fordert die Frauen auf, hinzusehen, wo er, Jesus Christus gelegen hat. Ich stelle mir vor, wie sie zusammenzucken, wollen sie doch nur die Blumen angießen.
Wir müssen auf solche Momente gefasst sein. Die sind überraschend, schieben sich wie ein Keil in die Routine hinein. Wenn wir Ostern feiern, dann rechnen wir sogar damit, dass da beständig so etwas passiert. Man sagt gerne allgemein: „Mit dem Tod ist nicht alles aus“, man sagt spekulativ: „Da kommt noch was“, wir bekennen aber: „Ich glaube an die Auferstehung der Toten“, also rechnen wir mit einem Engel, der den Stein bei Seite wälzt.
Eine junge Frau erzählt von ihrem alten Vater, der sei bei einem Unglück gestorben. Das war sehr plötzlich für alle. Und dann habe sie vieles, was er bis kurz vor seinem Tod benutzt habe, in den Händen gehalten. Und immer, wenn sie etwas in die Hand nahm, was ihm wichtig gewesen war, ahnte sie ihn in der Nähe. Sie erkannte, dass der Engel den Stein wenigstens schon einmal angehoben hatte. Es gibt diese Momente im Leben, da wird der Stein schon einmal weiter gerollt. Man kann solchen Ahnungen trauen. Ich bin mir sicher, dass alle, die einmal trauern mussten, wissen, wovon die Rede ist.
Heute sind auch die Männer auf dem Friedhof zu treffen. „Mal eben nach dem Grab sehen“ heißt es. Heute wissen wir, dass der Stein weggerollt ist, sie sahen keinen Toten mehr dort liegen. Heute dürfen wir damit rechnen, dass all diese Steine beiseite gerollt werden. Einst und heute, all diese Last, auch die der vergangenen, dunklen Monate, einfach schon einmal bei Seite gerollt. Wir bekennen das ja, „ich glaube an die Auferstehung der Toten und das ewige Leben“. Wir sind also darauf gefasst, dass all die Steine weggewälzt werden.
Karfreitag, 2. April 2021
Predigttext: Jesaja 52,13–15; 53,1–12
Ausschnitt: … Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. …
Predigt: Liebe Gemeinde,
da lag er am Boden, Fußtritte von allen Seiten. Die einen wenden sich ab, wollen das nicht sehen, die anderen klatschen Beifall. Leute kommen, wollen helfen, werden vertrieben. Szene aus Myanmar vom Rande der Demonstrationen. Man mag das nicht mehr sehen. Es gibt diese Szenen an so vielen Orten. Die, die sich stark fühlen, bilden sich ein, es sei ihnen geboten die Schwächeren am Boden zu halten. Vor einem Jahr hat ein Amerikaner, einen anderen Amerikaner neun Minuten zu Boden gedrückt, er starb. Wer so zu Boden geht, bringt oftmals ein Opfer, damit es anders werde.
Vieles von solchen bedrückenden Bildern, die zu uns kommen, spiegelt wider, was der Profet Jesaja vom Gottesknecht sagt:
„Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“
So der heutige Predigttext. Der steht im 52. Und 53. Kapitel des Buches Jesaja. Es geht um einen Gottesknecht, der bleibt namenlos, ist einer aus dem Volk, jemand der sich alles gefallen lässt. So sieht es auf den ersten Blick jedenfalls aus. Dieser Mensch, der getretene, leidende markiert aber die Geburtsstunde des „christlich- jüdischen Abendlandes“. Am Anfang unserer Kultur hält jemand seine Haut hin. Am Anfang macht sich einer zum Opfer, hält aus, was man ihm antut. „Du Opfer“ würden die üblen Stimmen voller Verachtung über den Schulhof rufen. „Du Opfer“, das ist ein Tritt mit Worten in die Magengrube.
Der Glaube beginnt mit diesem Opfer, das sich den Intrigen und Machtspielchen einfach hingibt. Wir sind keine Religion der Macht, wir sind eine Gemeinschaft, die mit seinem, mit Gottes Opfer beginnt. Zu allen Zeiten haben Christinnen und Christen in diesem Gottesknecht Jesus Christus gesehen. Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Das ist das, was Pia uns eben von Jesu Kreuzigung vorgelesen hat und führt direkt in den Karfreitag hinein. Leid wird hier angetan und von ihm bewusst ertragen. Christus erträgt das, was wir ihm auflegen. Leid ist hier nicht passiv. Dieses Leid enthält eine Botschaft. Das Leid des einen Gottesknechtes bedeutet, dass es für andere aufwärts geht. Da tritt hier einer für den anderen ein. Das ist ja ein Geheimnis unseres Lebens, dass Christus für uns eintritt, damit es aufwärts geht mit uns. Man kann unter dem Kreuz spotten „du Opfer“, Verlierer „Looser“. Man müsste aber staunen, dass da einer sich meine Schmerzen auflädt.
Es gibt unzählige Menschen, die für andere eintreten. Die nehmen etwas auf sich, um anderen Linderung, vielleicht auch nur einen Hauch Erlösung zu bringen. Da baut ein neuer Chefarzt in Zittau eine Corona Station auf, behandelt Patientinnen und Patienten und stirbt selbst an deren Krankheit. Ein Mensch tritt für andere ein. Da meldet sich eine Erzieherin, bringt jeden Tag, auch in der Freizeit, bei ihren Kindern aus der Gruppe etwas vorbei. Es gibt diese Menschen, die sorgen dafür, dass es für andere Menschen aufwärts geht: Die Lehrerinnen und Lehrer, die Leute, die sich jetzt einsetzen und dabei auch Gefahren ausgesetzt wissen. Ehrenamtliche, die zum Impfzentrum fahren. Gemeinde, die betet und sich nicht nur an den Beschränkungen stört, sondern trotzdem gemeinsam betet. Sie bleiben nicht bei „du Opfer“, oder „ich Opfer“ stehen. Ertragen heißt, etwas auf sich nehmen, auch Schmerzen aufzuladen und daran weiter zu tragen. Jesus lässt sich, wie schon zuvor der Gottesknecht nicht umsonst treten und anpöbeln, sie wandeln diese negative Energie in etwas Neues hinein.
Karfreitag ist der Tag, an dem diese Rolle als Opfer für uns zu Ende geht. Wir sind nicht die Opfer irgendwelcher Mächte, selbst dann nicht, wenn wir am Boden liegen. Opfer, das war mal. Wenn wir manchmal zu müde werden, zu ängstlich, zu zweifelnd, dann ist da der Gottesknecht, Jesus am Kreuz. Der, der ganz unten war, wird zu dem, der uns Leben möglich macht. AMEN.
Okuli - „Meine Augen sehen stets auf den Herrn“ (Psalm 25,15)
Sonntag, 7. März 2021
Predigttext: Epheserbrief 5,1–9
So ahmt nun Gott nach als geliebte Kinder und wandelt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat und hat sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer, Gott zu einem lieblichen Geruch.
Von Unzucht aber und jeder Art Unreinheit oder Habsucht soll bei euch nicht einmal die Rede sein, wie es sich für die Heiligen gehört, auch nicht von schändlichem Tun und von närrischem oder losem Reden, was sich nicht ziemt, sondern vielmehr von Danksagung. Denn das sollt ihr wissen, dass kein Unzüchtiger oder Unreiner oder Habsüchtiger – das ist ein Götzendiener – ein Erbteil hat im Reich Christi und Gottes. Lasst euch von niemandem verführen mit leeren Worten; denn um dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Ungehorsams. Darum seid nicht ihre Mitgenossen.
Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem Herrn. Wandelt als Kinder des Lichts; die Frucht des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit.
Predigt:
Liebe Gemeinde,
auf dem Platz vor dem Nationaltheater in Weimar steht das Denkmal für die beiden „Dichterfürsten Goethe und Schiller“. Gegossen wurde das Denkmal aus der bayrischen Kriegsbeute von türkischen Kanonen. Die Inschrift „Dem Dichterpaar Goethe und Schiller das Vaterland“ stifteten das badische Herrscherhaus. Der Gedanke eines solchen Denkmals: Wir brauchen Vorbilder in Sachen Sprache, Moral und kulturellen Zusammenhalt, der auch Ländergrenzen überschreitet.
Wirklich Nachahmenswertes ist ein kostbares Gut in unserer Gesellschaft. Man blickt auf, hebt den Kopf, lässt sich imponieren. Vorbilder sind grundsätzlich größer, als man selbst ist. Sie bleiben immer groß und die Aura des Unerreichbaren umgibt sie. Die Vorbilder, denen man nachstrebt, die Ziele, die man erreichen will, sind einen Kopf größer als man selbst. Würde man sie erreichen können, wären sie keine Vorbilder mehr. Was sind unsere Vorbilder? Unsere Eltern und Großeltern? Der Pastor aus der Kindheit? Die mutige Klassenkameradin? Es gibt sie die Denkmale, die – verdientermaßen – auf einem Sockel stehen, denen man nacheifern möchte.
„Ahmt nun Gott nach“, da stockt einem der Atem, man hält die Luft an. Auf diese Idee käme doch kein vernünftiger Mensch. Gott, der hat die Welt erschaffen. Gott hat die Welt mit sich und uns versöhnt. Gott erlöst die Welt, er, nur er, nicht ich, kann erlösen. Wir wissen es seit Monaten ganz genau, er ist es, der uns in dieser Pandemie und allen deren Folgen helfen kann. Wir trauen es ihm zu und geben der Politik viel zu viel Raum, überfordern sie alle, unsere Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger, weil wir übermäßig hohe Erwartung haben, es sind aber Menschen, die wir gewählt haben, denen man vielleicht eins einmal ein Denkmal setzen wird. Gott, sein Sockel ist seine Güte, die aber reicht soweit der Himmel ist und seine Wahrheit soweit die Wolken ziehen. Ihn gar nachahmen zu wollen, wirkt vermessen.
Meine Arme sind zu kurz, mein Geist zu klein, menschliches Leben ist immer nur Stückwerk, möchte man dem Apostel entgegenhalten. Hier im Epheserbrief führt offenbar nicht mehr der Paulus des Römerbriefes und der Korintherbriefe die Feder. Keine andere Stelle in der Bibel sagt, man könne Gott nachahmen. Es ist möglich Goethe und Schiller nachzueifern, es ist schier unmöglich, Gott nachzuahmen. Man kann Ziele festlegen, Plansollzahlen ansetzen, aber die Erfahrung lehrt, die Pläne führen oft nur die Unzulänglichkeit der Personen und Systeme vor, die sie aufstellen und verabschieden. Das ist nicht schlimm, es bleibt menschlich.
Dann aber sehe ich hoch, atme tief durch und lese weiter, die einfachen Sätze, die der Apostel weiter schreibt, die richten keine Sockel auf, die kommen auf Augenhöhe. „Von Unzucht aber und jeder Art Unreinheit oder Habsucht soll bei euch nicht einmal die Rede sein, … , auch nicht von schändlichem Tun und von närrischem oder losem Reden, was sich nicht ziemt, sondern vielmehr von Danksagung“ ist die Rede, wie es sich für die Heiligen gehöre, meint der Apostel. Das ist ein Denkmal ohne Sockel, da kann sich jede und jeder dazustellen. Ich muss noch nicht einmal christlich sein, um mich von all den Dingen rund um die Unreinheit und Habsucht fern zu halten. Wir wollen keine Gerede hinter dem Rücken anderer dulden. Wir wollen keine übergriffige WhatsApps auf den Handys unserer Kinder lesen müssen. Wir mögen nicht, wenn die Rede anderer Menschen immer mit den Worten „mein“ und „ich“ und „Ich will das aber so“ und „Ich habe Recht“ beginnt.
In einem unserer Kirchenbüros hat eine vormalige Gemeindesekretärin die „drei Siebe“ des Sokrates aufgehängt. Die gehen so: „Hast du das, was du sagen willst, schon durch die drei Siebe gegossen? Jenes der Wahrheit. Jenes der Güte. Jenes der Notwendigkeit.“ Der Zettel ist schon alt und ich frage mich, wenn ich dort sitze, wer hat wem diese Botschaft mit auf den Weg gegeben? In jedem Fall ist es keine Überforderung, sein Leben durch die Siebe, die der Apostel gibt, zu gießen: Unreinheit, Habsucht, unwahre Reden drei Siebe, aber das Sieb, das der Dank bereithält, sammelt die Goldnuggets aus dem Leben heraus. Siebe mal alles, was dir jetzt als Dank ins Herz gelegt ist, aus dem Täglichen heraus. Du wirst lächeln. Da ist selbst in schwierigen und bedrängenden Zeiten viel zu finden. Jedes Wort des Apostels ist für uns erreichbar. Nachahmung Gottes meint das, was zwar immer noch imposant, aber erfüllbar ist. Es gibt kein christliches Ideal auf kaltem Granitsockel. Es liegt in unserer Reichweite. „Herr, ich will dir nachfolgen“, heißt es und Jesus treibt seine Jünger, nicht zurückzublicken auf alte, gute Zeiten und deren Denkmale, sondern nach vorne zu schauen.
Ich denke an diese schönen alten Denkmale. Hoch zu Ross der König in Dresden, der König von Hannover vor dem Hauptbahnhof, der Kaiser – nicht so prächtig - auf dem Sockel in Heringsdorf, das Volk soll stocken, aufblicken, bewundern, verehren. Und ich bin dankbar, dass der Glaube kein Denkmal errichten. Das Kreuz Christi, Gottes Versöhnung, reibt sich an all solcher Pracht. Es steht für die Nähe, die Gott herstellt. Es ist wirklich anspruchsvoll Christin oder Christ zu sein, aber keine Überforderung. Weil Gott nur das erwartet, was wir auch tatsächlich leisten können. Es geht um Anstrengung, aber um nichts Unmögliches.
Der Bildhauer Ludwig Engelhardt stellte vor Jahrzehnten in Gummlin ein Gips-Modell - in Originalgröße - des späteren Marx-Engels-Denkmals in Berlin auf. So kann man es nachlesen, es sei von offizieller Seite gefragt worden, warum Marx auf seinem Denkmal sitze, Engels aber stehe. Herrscher säßen nun einmal auf einem Thron, begründete der Künstler. Er spielte offensichtlich mit dem Gedanken an den Thron Gottes und mit der Vorstellung, dass rechts davon der Platz Jesu sei. Das ist der Irrtum vieler Menschen, sie denken sich Gott in die Ferne, bauen dem Glauben ein Denkmal, machen ihn unerreichbar. So wollen sie Gott aus der Welt heraushalten. Gott aber hat sich für uns entschieden: Folge mir nach, heißt es und wir tun, was wir können und bekennen unseren Glauben.
Lied zur Jahreslosung 2021:
Jesus Christus spricht:
Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Lukas 6,36
1. Von Gott kommt die Barmherzigkeit.
Sie hält uns jetzt in schwerer Zeit.
Geduld in unsre Herzen senke,
guten Willen, Herr, uns schenke.
2. Dem Hunger wolln wir widerstehn,
an Fremden nicht vorübergehn.
Liebe in die Herzen bette,
sei mit uns; aus Not errette.
3. Arme wollen wir bekleiden,
Not der Einsamen vermeiden.
Mut in unsern Herzen stärke,
sei mit uns, gib gute Werke.
4. Die gefangen sind in Schuld,
woll‘n wir tragen in Gottes Huld.
Herr, in allen Herzen wohne,
gib uns Gnade, sie verschone.
5. Nachbarn wollen wir beschützen,
Kranke kraftvoll unterstützen.
Glauben in die Herzen lege,
sei mit uns, gib feste Wege.
6. Im Glauben wollen wir bestehn,
im Schweren niemals untergehn.
Liebe lass uns, Herr jetzt wagen,
sei in uns, hilf du uns tragen.
7. Tote woll‘n wir sicher betten,
Gott wird alle Leben retten.
Hoffnung in den Herzen mehre.
Sei mit uns; Herr, dir sei Ehre.
Text: Henning Kiene - Melodie: Sylvia Leischnig – nach EG 128
3. Sonntag nach Epiphanias – 24. Januar 2021
Psalmgebet: Psalm 86,1+2.5-11
Predigttext: Rut 1,1-19a
Predigt:
Liebe Gemeinde,
es ist Liebe und Verantwortung, beides und Rut bleibt bei Noomi. Die richtig guten Alternativen taten sich sowieso nicht auf. Rut wäre fremd zuhause, da, wo sie einst herkam, oder sie wäre fremd in der Fremde im Zuhause der Schwiegermutter. Es blieb, wenn man alles zu Ende dachte, für sie eigentlich nur diese Möglichkeit: „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“ Es ist ein Satz aus der Not einer Frau geboren, die nur noch Vergangenheit hat, und wenig Zukunft sieht. Hat sich die Schwägerin Orpa für Fremdsein zuhause entschieden, so kam Rut zu dem Ergebnis, fremd sein zu wollen in der Fremde. So ist das eben, man kann bei gleicher Ausgangslage zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.
Geblieben ist ein Satz, der sich dazu eignet, innige Liebe zu umschreiben und sich zugleich der Verantwortung zu stellen. „Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch.“ Ich habe so manches Brautpaar, das dieses Bibelwort für seine Ehe gewählt hat, noch vor Augen. Und bei Hochzeiten ist das ja auch so: Liebe übernimmt Verantwortung. Vernünftig ist, wenn man sich entschieden hat, alle Alternativen auszuschalten und ohne Hintergedanken zu planen. Denn man soll nichts versprechen und gleichzeitig wie die Kinder die Finger hinter dem Rücken kreuzen und sich etwas anderes denken.
Es ist überraschend, dass diese ganze Erzählung von Rut ohne Vorwürfe und ohne Schuldzuweisungen auskommt. Ganze Regierungssysteme arbeiten mit Schuldzuweisungen. In den USA ist das abgewählt worden, in Moskau demonstrieren die Menschen gegen diese Art, Schuldige zu suchen. Manchmal verbringt man Stunden damit, die Schuld den anderen nachzuweisen. Aber bei Rut und Noomi sterben alle Männer und mit den Männern starben die wirtschaftliche und soziale Sicherheit der überlebenden Frauen. Es ist nur von Tränen die Rede. Es herrscht eine Hungersnot. Menschen sind auf der Flucht. Es ist nur von Tränen die Rede.
Niemand macht einen Vorwurf und weist Schuld an dem Desaster irgendwohin oder irgendwem zu. Auch Gott wird nicht beklagt: „Warum sterben denn alle Männer?“ könnte man fragen. „Warum?“ Das läge so nah für die Frauen und die Klage auch: „Warum ist es so und nicht anders?“ So klingt es bis heute: „Warum soll ich das so machen?“, wenn es um all die Vorschriften geht, mit denen wir zurechtkommen müssen, oder: „Wo ist das Schlupfloch, das mich aus der Geschichte und all der Verantwortung, die ich mittrage, entlässt.“ „Wir werden einander viel zu verzeihen haben“, sagt der Gesundheitsminister. 5000 Tote zu viel sind es in einer Woche. An Schuldzuweisungen nimm das Buch Rut nicht teil, sondern es stellt die Suche nach der Verantwortung in den Mittelpunkt und die übernimmt der eine für die andere und die andere für den einen.
Manchmal braucht es so eine nüchterne Betrachtung, weil Vernunft nicht – wie man manchmal hört - automatisch lieblos ist, im Gegenteil Vernunft ist auf die Liebe angewiesen. „Wir versuchen das Beste aus diesen Wochen zu machen, aber wir wissen nicht, wie es uns gelingt“, sagt eine Mutter. Ihr Esszimmertisch ist zum Klassenraum geworden, die Geduld ist mehr als gefragt. Liebe und Vernunft sind gefragt und die Einsicht, dass Schuldzuweisungen nicht weiterhelfen. Wie viele versuchen das Beste daraus zu machen: Unsere Buchhandlung versorgt uns mit Büchern, das Fernsehen entdeckt das gute alte Schulfernsehen wieder. Da ist kein Schlupfloch, das einen aus dem Leben, so wie es ist, entlässt und ein anderes, vielleicht besseres Leben, für einen eröffnet. Liebe zählt und Verantwortung.
Es ist wie bei Noomi und Rut. Es hilft nur Liebe und sorgfältiges Abwägen. Oder: Fremd sein kann man überall. Geblieben ist von Rut ist kein Vorwurf, auch keine Klage gegen Gott, vor allem dieser Satz wird erinnert. Aus ihm spricht Hinwendung und Nachdenken: „wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.“
Statt Predigt am Heiligabend:
Jesus ist dann mal eben unterwegs
„In unserer Kirche ist das Kind gestohlen worden und die Krippe, in der es liegt“, die Polizistin und ein Polizist kommen nach wenigen Minuten. Sorgfältig nehmen sie den Schaden auf. Sie verstehen die Erregung, die hier herrscht. Man stiehlt doch nicht, vor allem nicht Weihnachten, erst recht nicht aus der Kirche. Sie machen einige Fotos, schreiben eine Vorgangsnummer auf und rücken ab.
Ein älterer Kollege sagt „heute klauen die alles“. Sie mag solche Sätze nicht. Sie mag aber Weihnachten auf der Wache. Dann ist die Stimmung anders als sonst. Eine große Kanne Tee steht bereit und die Lebkuchen stellt die Dienststelle. Sie erzählt von diesem Diebstahl. Ein Kollege weiß etwas mehr von Maria und Joseph und dem Kind, spricht von der Geburt, fehlendem Kinderbett und einer Futterkrippe. Das alles habe etwas mit Gott zu tun. Was jemand mit dem Jesuskind und dieser Krippe anfangen kann, wisse er nicht. Solche Schnitzarbeiten seien wertlos. Die Krippe stehe für Emotionen. Ihr Bericht wird kurz werden.
In der Kirche herrscht Krisenstimmung. Maria und Joseph starren stumpf auf einen leeren Fleck. Die Hirten knien ratlos davor. Die Gesichter der Figuren sind fein geschnitzt, das festliche Strahlen ist wie weggewischt. Der Engel steht mit offenem Mund, als wäre ihm ein Schrei im Hals stecken geblieben. Ein Lauffeuer der Empörung breitet sich aus.
Eine ältere Frau bringt ihre Krippe, „vielleicht passt die“. Ihr Jesuskind ist aber viel zu klein. Auch die Pfarrerin versucht es mit Ersatz. In kurzer Zeit stehen mindestens zwölf Krippen und Jesuskinder zur Auswahl. „Wie ein Klassentreffen“, meint ein jüngerer Mann, der zufällig dabei ist. „Besser als diese Leere“, sagt eine Frau. „Wir nehmen sie alle“, entscheidet die Pastorin. Niemand soll enttäuscht sein und jedes Kind sei an dieser Stelle wirklich wichtig. Außerdem sei zu viel von Jesus besser als zu wenig. Es ist entschieden. Die Figuren werden umgestellt, Platz wird geschaffen für ein Dutzend Krippen und Jesuskinder in unterschiedlichen Größen. Alle sind sich einig, das ist jetzt eine Art Kunstwerk, aus der Not geboren.
In seiner Jackentasche ist es zu eng. Er holt das Kind heraus, hebt es hoch. „Musst du sehen“, sagt er leise. Es ist still im Ort. Lichterketten hängen an den kahlen Asten der Bäume. An den Lampenmasten kleben hässliche Aufkleber, Papa pult die immer ab. Geschäfte haben noch geöffnet. Die Schaufenster leuchten. Die Bank, auf der im Sommer die Frau schlief, die aus Plastiktüten lebte, ist verlassen. Vielleicht hat diese Frau doch ein Zuhause. Dass ein Polizeiwagen vorbeifährt und Polizei in der Kirche verschwindet, war nicht geplant. Jemand spielt Akkordeon und wenige Münzen liegen im Hut.
„Ist dein Fest“, sagt er leise, seine Hände umschließen das Kind, er will es wärmen. Es war seine Idee, Jesus alles einmal zu zeigen, es ist ja sein Geburtstag. Außerdem ist es in der Kirche sowieso viel zu kalt und es riecht nach Möbelpolitur. Das ist kein Ort für ein Neugeborenes. Ob das mit dem Mitnehmen ok war? In seinem Bauch kitzelt es merkwürdig als die Polizei zurückfährt. Ist jetzt egal. „Nur für dich, ein Ausflug“, flüstert er leise. Das Gesicht des Kindes lächelt süß. Später wollte er es zurücklegen, unentdeckt. Die Krippe drückt in der Tasche, das Stroh bleibt an den Fingern haften. Das die das bemerkt haben, dass ihr Jesus jetzt unterwegs ist, ist ungeplant.
Die Mutter sieht ihn an. „Junge, was ist mit dir?“ Er zeigt das Kind, er zieht die Krippe aus der Tasche. Das Stroh krümelt neben seine Schuhe. Er sieht zu Boden. Die Mutter schweigt. „Und nun?“ fragt sie „Das musst du zurückgeben!“ Sie wird ihn nicht verstehen. Er sei kein Dieb, sagt er, er wollte nur etwas gegen die Langeweile tun. Seine Tränen sind echt. Er sagt das Wort ‚Polizeiauto‘ und dann gab es kein Zurück mehr. Die von der Kirche seien selbst schuld, die passen ja nicht auf und es riecht nach Möbelpolitur und ist kalt. „Und nun?“ fragt die Mutter. Vater kommt dazu und sagt mit trockener Stimme, „du sollst nicht stehlen“, als wüsste er das nicht. Jesus liegt warm in seiner Hand.
Vater besorgt frisches Stroh und presst es in die Krippe. Er legt das Kind zurück. Mutter schneidet ein kleines Stück Stoff zurecht, wickelt das Kind fest in seine neue Decke ein. Er soll es warm haben, meint sie. Dann kratzen sie noch kleine Wachsspritzer ab, polieren Kind und Krippe. Jesus lächelt noch süßer. Sie mögen dieses Kind in der Krippe.
Als abends fast alle abgebrannten Kerzen durch neue ersetzt sind, wirft jemand einen letzten Blick auf die Krippen und die Versammlung der Jesuskinder. Da liegt jetzt auch noch eine Visitenkarte mit Polizeistern. Handschriftlich ist die Vorgangsnummer eingetragen, Der Name der Polizistin und ein Dienstgrad. Die Vorgangsnummer ist fett durchgestrichen. Auf der Rückseite „erledigt, Frohes Fest und danke für den Abend bei Ihnen“. Neben der Karte steht die Krippe, Jesus liegt auf frischem Stroh und ist fest eingewickelt in eine neue, rote Decke. An diesem Abend wurde - zum ersten Mal - ein Vorgang aus dem Buch der Wache ausgestrichen.
Henning Kiene
4. Advent 2020 – 20. Dezember 2020
Wochenpsalm: Psalm 102,13–14.16–18.20–23
Evangelium: Lukas 1,26-38
Predigttext: Der Herr erschien Abraham im Hain Mamre, während er an der Tür seines Zeltes saß, als der Tag am heißesten war. Und als er seine Augen aufhob und sah, siehe, da standen drei Männer vor ihm. Und als er sie sah, lief er ihnen entgegen von der Tür seines Zeltes und neigte sich zur Erde. Da sprachen sie zu ihm: Wo ist Sara, deine Frau? Er antwortete: Drinnen im Zelt. Da sprach er: Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr; siehe, dann soll Sara, deine Frau, einen Sohn haben. Das hörte Sara hinter ihm, hinter der Tür des Zeltes. Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und hochbetagt, sodass es Sara nicht mehr ging nach der Frauen Weise. Darum lachte sie bei sich selbst und sprach: Nun, da ich alt bin, soll ich noch Liebeslust erfahren, und auch mein Herr ist alt! Da sprach der Herr zu Abraham: Warum lacht Sara und spricht: Sollte ich wirklich noch gebären, nun, da ich alt bin? Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein? Um diese Zeit will ich wieder zu dir kommen übers Jahr; dann soll Sara einen Sohn haben. Da leugnete Sara und sprach: Ich habe nicht gelacht –, denn sie fürchtete sich. Aber er sprach: Es ist nicht so, du hast gelacht. 1. Mose 18,1-2.9-15
Predigt: Liebe Gemeinde,
„Und sie waren beide, Abraham und Sara, alt und hochbetagt“ und sie saßen da, fast jeden Abend vor Ihrem Zelt so manche Stunde. Er, sonnengegerbt, ihre dünn gewordenen Haare fliegen im abendlichen Wind. Sie reden nicht mehr viel, es ist alles gesagt. Aber er hält ihre Hand, drückt sie und spürt die Haut, ja, sie hat hart gearbeitet. Sie hatte kein Kind von ihm geboren. Soll man jetzt noch darüber sprechen? Irgendwann im Leben findet man sich damit ab, dass es so ist, wie es ist.
In der Bibel ist Abraham schon rund 100 Jahre alt. Sara etwas jünger, beide haben also das biblische Alter erreicht. Da ist sowieso alles schon gelaufen, Kinder, Beruf, Zukunft, alles ist schon fast Vergangenheit. Aber ihre Hand in seiner, jeden Abend, das ist einfach gut und versöhnt. Diese vertraute Hand, die möchte er in seiner spüren, solange man sich hat, nch.
Vielleicht lernen wir es jetzt gerade, in diesem Advent, einmal neu, wie man mit platzenden Träumen leben kann. Diese beiden Alten bieten sich uns als Vorbild an. Wir, unsere Kinder und die Enkel, alle improvisieren sich durch dieses Jahr. Vor allem die Jungen ändern ihre Pläne, beginnen neu, suchen, schränken sich ein und geben nicht auf. Die Alten auch, die müssen am meisten erdulden in diesen Corona-Zeiten. Ich höre: Wenn das eine nicht geht, dann mache ich es eben anders. Und dann wird Weihnachten für manche von uns zu einer Herausforderung, an der die ganze Krise offen zu Tage liegt. Wer feiert wo mit wem? Wer kommt, wer kommt nicht? Was wird aus unseren alten Eltern? Und das sind alles Fragen, die in die Tiefe reichen, wie Weihnachten auch unter die Haut geht. Warum ist alles so anders, auch in unserer Kirche? Ich mag das nicht alles aufzählen.
Man kann sich an dem festhalten, was nicht möglich ist. Abraham und Sara: Wer soll erben, wer tritt in die Fußsturen. Warum hat Gott Nachkommen versprochen und bei ihnen das Versprechen nicht gehalten? Irgendwann im Leben findet man sich damit ab, dass es so ist, wie es ist. Dann sitzen wir, wie Sahra und Abraham vor dem Zelt im Abendwind und haben Glück, wenn die Hand eines geliebten Menschen in der eigenen liegt. Und da macht sich keine Resignation breit, sondern Hingabe. Irgendwann hatten die beiden den Kinderwunsch aufgegeben, Abraham und Sahra blieben eben nur Sara und Abraham, Ehepaar, kinderlos. „Soll ich noch Liebeslust erfahren?“ man soll sich nicht an dem, was nicht ist, festklammern. Man muss irgendwann nicht mehr mit dem Kopf durch die Wand wollen. Sich dem hingeben, was anders geworden ist, ist die Kunst des Lebens. Wir beten auch nicht „mein Wille geschehe“ es geht um „Dein Wille geschehe“. Gott hat manchmal lange, ganz lange
Fristen, und er führt uns auf verschlungenere Lebenspfade, als wir sie suchten. Er mutet uns auch etwas zu.
Dass da schon zur Mittagszeit Männer kommen, hat niemand bemerkt. Plötzlich stehen die da. Abraham rennt los, ihnen entgegen. Fremde, Gäste, Gott? - Lange war man davon überzeugt, dass Gäste, die man nicht kennt, der Besuch sein könnte, den Gott einem abstattet. - Und man deckt Gott den Tisch und tischt den besten Wein auf, wirft die Heizung an, stellt eine Krippe bereit, in der Gott sich betten kann. Wer will bei dem Besuch Gottes ungastlich dastehen? Wer wollte die Kirche kalt, kahl und dunkel im Dorf stehen lassen, wenn Gott kommt und Weihnachten wird? Niemand. Da nimmt man die Beine in die Hand und rennt los.
Er hört: „Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr; siehe, dann soll Sara, deine Frau, einen Sohn haben.“ „Ich will wieder kommen“, sagt er und ich klage, weil wir es einmal im Leben, zum ersten Mal, anders haben, als es sonst ist, bin ungehalten, weil wir hier nicht singen können, eine Maske tragen müssen. Aber: Übers Jahr kommt er wieder, der Herr. Ich denke manchmal, wenn die Coronapandemie etwas bewirkt, dann lehrt sie mir Geduld. Sara und Abraham, wieviel Geduld mussten sie aufbringen, Jahrzehnte, bis Gott ihnen diesen Besuch abstattet und auch seine Zusage einhält. Spät, aber nicht zu spät.
Abends sitzen sie wieder da, der warme Wind wirbelt leicht durch ihre Haare. Es ist abgeräumt. Sie haben den Abwasch erledigt. „Dass du gelacht hast, war nicht in Ordnung“, sagt er „das hat er dir auch gesagt und dass du das dann nicht gewesen sein wolltest, war auch nicht ok“, fügt er an. „Aber Recht hast du, es ist zum Lachen, wir haben gewartet und gewartet, versucht und versucht, und es sollte nicht sein, und nun sind wir alt und werden jetzt noch Vater und Mutter.“
Einem platzen die Träume weg, wie die Seifenblasen und dann schweben sie wie im Traum an einem vorbei. Nun nimmt sie seine Hand, schließt sie in die ihre, spürt die rauen Finger, er hat wirklich viel gearbeitet, er hat sich nicht geschont. Und nun sollen sie auch das noch erleben, gemeinsam ein Kind und die Zusage von damals, die hält Gott heute. Sie muss sich kneifen, auch vor Glück. „Zwick mich nicht“, sagt er.
Wenn ich an Abraham und Sara denke, dann weiß ich, dass es kein Ende gibt mit den Überraschungen. All diese Fragen, all diese Not in der Pandemie, hofft auf diesen Besuch, den Gott vorbeischickt. „Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr; siehe, dann soll Sara, deine Frau, einen Sohn haben.“ Was ich heute höre: „Ich will wieder zu dir kommen übers Jahr; siehe, dann wird es anders sein als heute, besser.“ Ich weiß, dass ich eine Neigung habe, mich in der Sorge um so vieles zu vergraben. Ich weiß aber auch, dass dann, wenn ich nichts mehr erwarte, an der Wohnungstür klingelt. Da steht er dann der Mensch, den Gott schickt: „Übers Jahr“, sagt er. Und ich sage, „ich weiß schon, du wirst kommen, es wird Weihnachten werden in wenigen Tagen und anders, besser sein als viele sagen und denken.“ Amen.
Nikolaustag - 2. Advent 2020 – 6. Dezember 2020
Wochenpsalm: Psalm 24
1. Lesung: Der Geist Gottes des Herrn ist auf mir, weil der Herr mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn und einen Tag der Rache unsres Gottes, zu trösten alle Trauernden. Ich freue mich im Herrn, und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott; denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet, wie einen Bräutigam mit priesterlichem Kopfschmuck geziert und wie eine Braut, die in ihrem Geschmeide prangt.
Jesaja 60,1+2+10
2. Lesung: Habt aber acht, dass ihr eure Gerechtigkeit nicht übt vor den Leuten, um von ihnen gesehen zu werden; ihr habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Wenn du nun Almosen gibst, sollst du es nicht vor dir ausposaunen, wie es die Heuchler tun in den Synagogen und auf den Gassen, damit sie von den Leuten gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut, auf dass dein Almosen verborgen bleibe; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten. Matthäus 6,1-4
Predigt:
Liebe Gemeinde,
in Zeiten größter Not gewinnt der Glaube neue Bedeutung. So wird es auch aus der Hafenstadt Myra erzählt. Ein Mann lebte mit seinen Töchtern in ärmlichen Verhältnissen. Es herrschte Hunger. In seinem Haus, in seiner Gasse, in der Stadt verstummten die fröhlichen Kinderstimmen. Erst sah man sie noch auf der Straße, die Kinder, dann redeten sie immer leiser, die hellen Stimmen wurden matt, die Wangen hohl, schließlich schwiegen die jungen Leute. Wenn das Leben auf den Gassen verstummt, ist das ein Alarmzeichen.
Dass der Vater erwägt, die Mädchen zu verkaufen, an irgendwelche Menschenhändler, darüber schweigt er. Man muss so etwas mit sich selbst ausmachen, denkt er. Not ist vielen Menschen schon immer peinlich.
Es wird erzählt, dass an einem Morgen kostbares Goldgeschirr im Fenster der Töchter steht und Silber. An diesem Tag ist vom Hunger keine Rede. Sie kaufen Brot, legen einen Vorrat an. Am nächsten Tag finden sie andere teure Schätze im Fenster. Nun wissen sie, ihre Not ist nicht endlos, sie sind nicht vergessen. An diesem Tag beginnen die jungen Mädchen wieder zu sprechen. Und sie hören die Stimmen anderer Kinder nebenan, endlich. Die Gassen erwachen zu neuem Leben.
Am dritten Morgen stehen sie früh auf. Die Mädchen, wollen wissen, wer es ist, der an sie denkt. Sie hören den Gang schweren Schuhen und das Klimpern von Metall vor dem Fenster, da sehen sie ein Gewand: Es ist das farbige Gewand des Bischofs. Nun wissen sie: Der Bischof teilt von den Schätzen seiner Kirche aus. Goldene Kelche, silberne Teller, das, was die Kirche besitzt, sogar die eisernen Reserven. An diesem dritten Tag zeiht wie früher der Duft frisch gebackenen Brotes durch die Gassen der Stadt. Und die Kinder schwatzen wieder und tollen durch das Viertel. Der Vater aber schämt sich für seinen Plan.
Die Stadt gibt es wirklich. Es ist Myra. Den Bischof gibt es auch. Er heißt Nikolaus. Er steht für ein Beispiel: In Zeiten größter Not gewinnt der Glaube neue Bedeutung. Sein Motto hat er von Jesus übernommen: „Wenn du aber Almosen gibst, so lass deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut“ oder einfacher „wenn du anderen etwas Gutes tust, häng es nicht an die große Glocke.“ So wurde aus dem Bischof Nikolaus ein heimlicher Gabenbringer und darum stellen wir die Stiefel raus, damit wir uns unerkannt und heimlich wie der Nikolaus gegenseitig etwas Gutes tun können.
Pastor Pieritz erinnerte uns an einen Brauch zum Nikolaustag, der heißt „Stroh legen“. Der geht so: Mit jeder guten Tat, die ein Mensch dem anderen tut, mit jedem Geben, es müssen ja nicht gleich die Goldschätze sein, auch mit jeder Idee für ein gutes Wort, wird ein Strohhalm in die Krippe gelegt und ein weiches Bett gerichtet für Jesus, der in die Welt kommt. So wird Gott, dann am Heilig Abend nicht in eine kalte harte Welt hineingeboren, sondern in einer weichen Krippe unter uns gebettet. Eine Krippe in einer von Gottes Liebe und Menschenliebe vorgewärmten Welt. Und die Kinderstimmen dringen von den Gassen an die Krippe. Glaube gewinnt an Bedeutung, wenn die Not groß ist. Darum: Mit Freundlichkeit und Wohltaten erwärmen wir die Welt für Jesus Christus.
Auf Ihren Plätzen liegen heute Vormittag lange, gelbe Papierstreifen und Stifte. Das Papier soll Stroh sein. Die Frage heute heißt: Wie sieht mein Strohhalm aus, den ich zur Ankunft Jesu in die Krippe lege. Bitte notieren Sie sich, was Ihr Beitrag ist, auf dem das Christkind warm gebettet werden kann am Heiligabend. Ist es mehr Rücksicht, die Sie nehmen wollen oder einen Kuss für die kleine Schwester? Ein Anruf beim Enkel? Eine Überweisung an „Brot für die Welt“? Ihr Gebet für die Menschen, die mit COVID 19 sterben? Es gibt so viele Wege, dafür zu sorgen, dass es wärmer wird in der Welt.
„Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen“, heißt es beim Propheten heute und in Myra zieht frischer Brotduft durch die Gassen und die Kinder, eben noch im Schrecken verstummt, spielen auf den Straßen, und der Vater hört die Stimmen seiner Töchter, gerade eben noch spielte der mit dem Gedanke, sie an diese Männer zu verkaufen, denen man selbst im Dunklen nicht begegnen möchte. Nikolaus, das war vor über 1700 Jahren. Aber erzählt wird es noch heute. Die Menschheit hat ein gutes Gedächtnis für Orte und Zeiten, in denen der Glaube es wärmer machte in ihrer Zeit. Ich hoffe, dass man von uns später erzählen wird, wie aus Myra. Ich hoffe, dass man einst erinnert, dass wir es waren, die Christinnen und Christen, die in dieser ungewöhnlichen, von dieser großen und gefährlichen Pandemie betroffenen Zeit, für etwas mehr Wärme gesorgt haben. Und wenn irgendwann Weihnachten 2020 erinnert wird, dann wünsche ich, dass auch in Jahren noch lebendig ist, wie wir unser Stroh, auch alle unsere inneren Schätze, zusammentrugen und in die Krippe legten, damit Jesus am Heiligabend nicht auf dem roh gezimmerten Holz liegen muss, sondern in der Wärme unseres Weihnachtsfestes gebettet wird.
Kyrie-Gebet
Du Schöpfer, dir klagen wir die Not unserer Tage, das Leid der Kranken, die Not der Sterbenden und bitten, bleibe du unser Schöpfer, mache uns neu. Kyrie eleison, Herr, erbarme dich.
Jesus Christus, wir klagen dir die Not unserer Tage, das Leid der Einsamen, die Not der Hungernden und bitten dich, komm in diese kalte Welt, wärme sie. Christe eleison, Christus, erbarme dich.
Heiliger Geist, wir klagen dir die Not unserer Tage, das Leid der Lieblosen, die Schwachheit der im Herzen verhärteten, gib deinen Geist in die erstarrten Sinne, Kyrie eleison, Heiliger Geist erbarme dich.
Wir schöpfen aus deiner Liebe Gott, Tag für Tag, nehmen aus der Fülle deiner Gnade und teilen mit unseren Mitmenschen aus den Schatz deines Wortes. Wir danken dir und loben dich durch diese Zeit bis in alle Ewigkeit. Amen
Fürbittgebet
Jesus Christus spricht: „Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“,
Danach lasst uns leben und um Barmherzigkeit lasst uns bitten,
dass wir milde werden im Geist und unsere Liebe verschenken, diesen großen Schatz,
den Kindern uns zuwenden,
den Alten Nähe geben,
den Glaubenden verbunden bleiben,
den Zweifelnden Geschwister werden,
den Hungernden geben, was Not ist
und unseren Sterbenden beistehen.
Alle: Herr, erbarme dich.
Für alle, die von dieser Pandemie betroffen sind, lasst uns bitten,
denen, die in Sorge sind, schenke Zuversicht,
allen, die in Quarantäne sind, gib Geduld,
den Kranken sei ein Arzt,
den Sterbenden stehe bei,
denen, die trauern sei Trost,
allen die pflegen und heilen, die Dienst tun in Ämtern und Behörden, Gemeinden und Kirchen,
schenke Beharrlichkeit jeden Tag.
Und alle bewahre in der Anfechtung.
Alle: Herr, erbarme dich.
„Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen“,
schärfe Verstand und Mitgefühl, schenke uns solche Barmherzigkeit, dass die Kinder jubeln und die Alten in der Zeit des Alters ihre Ruhe finden. Amen
1. Advent 2020 - 29. November 2020
Wochenpsalm: Psalm 24
Evangelium: Matthäus 21,1–11
Predigttext: Du, Tochter Zion, freue dich sehr, und du, Tochter Jerusalem, jauchze! Siehe, dein König kommt zu dir, ein Gerechter und ein Helfer, arm und reitet auf einem Esel, auf einem Füllen der Eselin. Denn ich will die Wagen vernichten in Ephraim und die Rosse in Jerusalem, und der Kriegsbogen soll zerbrochen werden. Denn er wird Frieden gebieten den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.
Sacharja 9,9–10
Liebe Gemeinde,
er liegt auf einem Sofa, räkelt sich im Bett, futtert Chips und trinkt Cola. Der Maschinenbaustudent im Winter 2020. „Wir fassten allen unseren Mut zusammen und taten das einzig Richtige, wir taten nichts, unsere Geduld war unsere Waffe“ Und: „So wurden wir zu Helden.“ Sie liegt auf dem Bett, schmiegt sich an ihren Freund, liest ein Buch. „Wir schimmelten zuhause rum und verhinderten damit die Ausbreitung von Covid19“, erinnert sie, denn „besondere Zeiten brauchen besondere Helden. Und das waren wir“. Solche Filme kursieren seit Wochen und bringen – natürlich mit einem Augenzwinkern - zusammen, was eigentlich absurd ist: Held sein auf der einen Seite und nichts tun auf der anderen Seite.
Geschichten vom Heldentum müssen bei vielen Gelegenheiten neu geschrieben werden.
Ich mag solche Geschichten, die sich auf den ersten Blick nicht zusammenfügen wollen und dann doch, je länger man hinsieht, zusammenpassen. Da sitzt Jesus und reitet auf dem Esel. Seine Füße schleifen im Staub. Das Tier zockelt mit störrischem Schritt. Ich stelle mir vor, wie er die Promenade heraufkommt und an den prachtvollen Villen vorbeizieht, vor den erleuchteten Fenstern verharrt. Man sollte mehr darauf achten, wer zu uns schon unterwegs ist.
Die alten Heldengeschichten beginnen anders. Die gehen so: Siegfried, im Drachenblut gebadet, in der Sage greift zum scharfen Schwert, tötet den Drachen. Oder: Albert Einstein, mit hellwachem Kopf und messerscharfem Verstand, der Held der Relativitätstheorie. Aber Gott führt kein Schwert und nimmt nicht den mit dem messerscharfen Verstand eines Genies, um eine Weltformel zu errechnen, er reitet einen Esel. Man kann mit Eseln keine Schlacht gewinnen und kein Herrscher ist auf einem Eselstandbild zu sehen, niemand hat es auf dessen Rücken zu Weltruhm gebracht. Nur Jesus.
Und mein Glaube sagt: Gottes Reittier, das ist wie auf dem Sofa gammeln und gleichzeitig ein Held zu sein. Und: Dieser Esel hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit mir und – ich bitte um Entschuldigung - vielleicht auch mit Ihnen. Nichts dafür getan und doch: Gott bindet mich los vom Pflock, an dem ich festgemacht bin und vertraut mir an, dass ich an ihn glauben darf. Er hält an den Widerspenstigen und manchmal störrischen Menschen fest. Dass seine Füße im Staub baumeln, scheint ihn nicht zu stören. Ich darf glauben, ich habe eine Hoffnung, wir wissen etwas vom Himmel und sind doch eher Esel als Helden.
Eine Journalistin begleitete eine Delegation evangelischer Kirchenvertreter in den Vatikan. Sie darf nicht mit, muss bei der privaten Audienz außen vor bleiben. Sie tritt in einen Innenhof, wartet dort vertreibt sich die Zeit. Da geht plötzlich eine kleine Hintertür auf, der Papst erscheint auf dem Hof, geht an ihr vorbei zu einem klapprigen Fiat, er grüßt sie freundlich, wechselt zwei Sätze, wünscht Segen und guten Appetit und braust im grünen Autochen davon zum Mittagessen. Und sie ist beeindruckt von dem Auto und den alten Schuhen, die sie an seinen Füßen sah, und seinen freundlichen Worten. So gehen Heldengeschichten. Sie sind eigenwillig, wie der Glaube es ist.
Und die, die am wenigsten damit rechnen, schreiben solche neuen Heldengeschichten. Das ist seit Monaten so: Die Pflegerinnen und Pfleger in den Kliniken, Heimen, die Kinder in der Schule, Lehrerinnen und Lehrer, die Frau an der Kasse, unser unermüdlicher Paketbote, alle unsere neuen Heldinnen und Helden. Das wollten sie niemals werden. Bessere Bezahlung, die wollen sie. Aber Helden, das waren bis eben noch: Winnetou, Siegfried aus der Sage, Albert Einstein, Niel Armstrong und Sigmund Jähn. Alles eher die Männer, seltener die Frauen. Das ist aber auch schon lange veraltet. Und ich sehe die Intensivpflegerin im Interview im Fernsehen. Dahin wollte sie nicht, in ins Morgenmagazin oder die Tagesschau. Sie wollte Menschen pflegen.
Helden 2020, es hat sich etwas verändert. Und ich sehe Jesus, und stelle mir vor, der reitet auf dem Esel unsere Strandpromenade herunter, die Hotels liegen dunkel da, in unseren Fenstern leuchten ihm die Herrnhuter Sterne, Kurstraße, Saarstraße, Kleingarten, die Kaiserstraße, die Kirche, ihm strahlt die geballte Hoffnung aus unseren Zimmern entgegen. Diese Hoffnung ist wie die Kleiderstraße, die sie ihm einst legten, darauf suchte der Esel seinen Weg. Auf unserer Hoffnung, auf den Lichtspuren, die wir in diese Tage auslegen.
Vielleicht suchen wir noch nach den Helden aus unseren Kindertagen, halten Ausschau nach einem Ross und Reiter mit Schwert, auf hohem Sockel, eins der alten Denkmale, suchen die alten, heute verbrauchten Geschichten. Aber draußen vor unseren Fenstern und Türen, da trappelt der Esel durch die Straße, kommt an unseren Häusern an, auf seinem Rücken der, der „Frieden gebieten wird den Völkern, und seine Herrschaft wird sein von einem Meer bis zum andern und vom Strom bis an die Enden der Erde.“ Ich würde mich nicht wundern, wenn seine Hufe Spuren auf den Wegen hinterließen. Es riecht manchmal nach Esel, weil er, der Held ist, der den Herrn zu uns trägt.
Letzer Sonntag im Kirchenjahr – Eweigkeitssonntag - 22. November 2020
Predigttext: Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr. Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann. Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und
Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen. Und der auf dem Thron saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu! Und er spricht: Schreibe, denn diese Worte sind wahrhaftig und gewiss! 6Und er sprach zu mir: Es ist geschehen. Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende. Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst. Wer überwindet, der wird dies ererben, und ich werde sein Gott sein und er wird mein Sohn sein.
Offenbarung des Johannes 21,1-7
Liebe Gemeinde,
sie saß an seinem Bett, sie sprachen nur noch das Wichtigste. Zwischen ihnen war ja auch alles gesagt. Manchmal öffnete er die Augen, „bald bin ich wieder gesund, dann komme ich nach Hause“, sagte er. Das sollten am Ende auch seine letzten Worte werden. Jetzt sagte sie zu ihm, „hoffentlich bald“.
Abends lag sie zuhause allein in dem großen Bett. Sie träumte viel, schlief schlecht. Sie hörte sein leises Schnarchen, er lag neben ihr. Sie schreckte auf. Da war sein Platz leer. Sie wusste, leer würde der für immer bleiben. Es gab kein „nach Hause“ mehr. Es würde ein anderes Zuhause werden. Da wäre der Schmerz nicht mehr, das Leid wäre vergangen, die Tränen abgewischt, dieser lange Abschied wäre nicht mehr.
„Bald bin ich wieder gesund, dann komme ich nach Hause“. Wenige Tage später atmete er nur noch flach und unregelmäßig. „Papa ist nur ein Schatten“, sagte die Mutter zur Tochter am Telefon. Die rief alle Geschwister an. Sie kamen, aber ihr Vater war schon gestorben. Sie nahmen Abschied. Und noch an seinem Totenlager sprachen sie von seinem Optimismus. Er habe immer an eine Zukunft geglaubt, selbst dann, wenn das Leben vollkommen verfahren war. Sein Satz lautete „bald wird es wieder“. All die Jahre war er davon überzeugt, auch als der Krebs kam und die letzten Diagnosen, „bald wird es wieder“.
Es wirkt manchmal so, als trüge der Optimismus ein geheimes Wissen um das himmlische Jerusalem in sich. Immer wieder hoffen wir mehr, als vernünftig ist. Dass es ein Zuhause gibt, das sich jenseits dieser Zeit und über unsere eigene Lebensspanne hinaus eröffnet, ist vielen Menschen dann doch vertrauter, als sie selbst denken. Die Stadt Gottes, die vom Himmel, von Gott, herabkommt, nimmt dem, was wir hier erleben, die Wucht und leitet es in eine andere Dimension weiter. Wer sich zu Jesus hält, das ist die Botschaft der Bibel, erhält ein Bürgerrecht für das himmlische Jerusalem, wird an der Hütte Gottes angesiedelt. Das wirkt schon jetzt in die Lebenszeit hinein. Der mutige Optimismus, der sich gegen alle nur denkbaren Fakten auflehnt, zehrt von solchem Bürgerrecht. Und diese Stimme „siehe, ich mache alles neu“, will in den Ohren nicht verstummen und schafft ihre eigene Realität.
Später sitzen sie um den alten Küchentisch. Sein Stuhl bleibt frei. Sie trinken etwas, sie schweigen und dann entspannt sich ein Gespräch. Von ihm, dem alten Vater, dem Kranken sprechen sie, dann holen sie Fotos, sehen ihn wieder jung vor sich. Alle wissen etwas anderes zu erzählen. Fotos in schwarz-weiß gehen von Hand zu Hand, er am Strand in Badehose und dann bei der Armee, damals. Plötzlich ist er in ihrer Erinnerung wieder gesund, ihr Reden, das Ansehen der Bilder. Sie lachen und reden durcheinander und wischen seinen Tod beiseite. Solche Gespräche sollten wir heute führen, sie weisen weit über unsere eigene Zeit hinaus. Manchmal meint man, die Toten seien noch einmal in unserer Mitte.
Die Methoden, mit denen Gott Tränen trocknet und das Leid und das Geschrei beendet, sind sehr unterschiedlich. Es braucht sein Wort. Manchmal reicht zusätzlich ein Küchentisch als Requisite und jemand muss das Gespräch dann auch eröffnen. Dann helfen einige Fotos und Erinnerungen. Wer vergangene Lebenstage Revue passieren lässt, hofft auf einen weiteren Horizont, als die Augen ihn selbst abtasten können. Unsere Toten umgeben uns. Ihr Tod ist endgültig und doch ist er nicht ewig. Der Platz unserer Verstorbenen bleibt frei. Der Stuhl steht verlassen. Menschen kann man nicht ersetzen. Und der Platz an der Hütte Gottes steht ihnen frei. Da ist das andere Zuhause. Und dieser Platz ist für immer da.
Auch wenn das Leid einen überflutet und man seine Verstorbenen am liebsten nur noch zurückhaben möchte: Jeder hat – so will es Jesus - ein Bürgerrecht an der himmlischen Stadt Gottes. Das A und das O, der Anfang und das Ende, dafür bürgt Jesus, werden nicht mit den Lebensdaten in den Grabstein gemeißelt, das A und O, der Anfang und das Ende in der himmlischen Stadt bleiben ohne eingemeißeltes Datum ewig.
Alles, was wir vom himmlischen Jerusalem hören, ist eine Fortsetzung der Ostergeschichte. Das Leben wird von Gott entgrenzt und das merken sie am Küchentisch, an dem sie reden, lachen und weinen. Wie im himmlischen Jerusalem werden die Tränen getrocknet und es ist nicht mehr das Leid und Geschrei, das verstummt. Im Laufe des Abends zündet die Mutter eine Kerze an, die brennt dann lange an seinem Platz. Sie denkt, dass er nun doch genau das bekommen hat, was er sich wünschte: „Bald bin ich wieder gesund, dann komme ich nach Hause“. Zuhause, da ist er jetzt.
Heute zünden wir in diesem Gottesdienst Kerzen an. Für alle unsere Toten je ein Licht. Keiner ist verloren. Alle haben ihren Platz. Wir denken an sie und wir wissen, Jesus hat ihnen vom Himmel eine neue Stadt gegeben, da ist ihr Zuhause. Amen.
„Wort zum Sonntag am 10.10.2020 in der OSTSEE-ZEITUNG
Du bist toll“
Sie saß in einem Restaurant. Ein großes Sandwich hielt sie mit beiden Händen. Da tritt ein Mann an ihren Tisch. Sie ist jung, er einige Jahre älter. Er steht vor ihrem Tisch. „Du siehst toll aus. Wirklich extrem attraktiv“, sagt er zu ihr und sieht ihr in die Augen. Sie spürt, wie sie rot wird, kann nichts erwidern. Da sagt er „ich habe mit meiner Freundin darüber geredet und sie meinte, ich solle es dir einfach sagen.“ Sie schaut zu seiner Freundin, die winkt ihr mit der Hand unauffällig zu. Der Mann lässt sie mit ihrem roten Kopf und dem Kompliment zurück. Als sie etwas später das Restaurant verlässt, sitzen beide noch auf ihren Plätzen. Sie sehen kurz hoch und lächeln ihr freundlich zu.
„Das hat mich völlig überfordert“, erzählt sie später. Sie fürchtete, der Mann würde einen plumpen Annäherungsversuch starten. Auch unterschwellig sei da „nichts gelaufen“. Zurück blieb ein wunderbares Kompliment. Ihre Verlegenheit mischte sich mit Freude. Während sie davon erzählt, spürt sie, dass ihre Wangen etwas röter werden. Selbst Wochen später ist sie noch überrumpelt. Aber sie freut sich noch immer. Sie sieht großartig aus.
Der christliche Glaube ist Gottes Kompliment. „Du siehst toll aus.“ Das übersetzt die Bibel in ihre eigene Sprache. Die klingt manchmal kompliziert. In der Bibel hört sich das so an, „das Wort ist ganz nahe bei dir, in deinem Munde und in deinem Herzen, dass du es tust.“ Eigentlich müsste ich erröten. Weil Gott mir viel zutraut. Er findet mein Herz und meinen Mund toll. Das Herz ist der Sitz des Lebens, hier wohnen die Empfindungen. Es schlägt hoch für die Liebe und wird rasend, wenn jemand Unrecht tut. Der Mund ist der Ort für die Worte, er macht Komplimente und sucht nach dem richtigen Ton. Gott macht uns in Sachen Komplimente zu seinen Partnerinnen und Partnern. Er will, dass wir die Herzen der anderen hochschlagen lassen, er will das „du bist toll“ hören.
Es ist Zeit für Komplimente. Man muss nicht gleich in einem Restaurant anfangen. Zuhause beginnt das mit dem Üben. Vielleicht schon ein erster Test am Frühstückstisch. Selbst wenn die Haare grau geworden sind und die Personenwaage Alarm schlägt, ein Kompliment pass immer. Vielleicht so: Du bist ein toller Mensch, kannst so viel, bist begabt, stehst mitten im Leben, bist mir treu, lässt Herzen höherschlagen und suchst nach den richtigen Worten.
Henning Kiene, Pastor in Ahlbeck und Zirchow
16. Sonntag nach Trinitatis – 27. September 2020
Evangelium: Johannesevangelium 11,1+3+17–27+38b–45
Predigttext:
Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit. Darum schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin, sondern leide mit für das Evangelium in der Kraft Gottes. Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf, nicht nach unsern Werken, sondern nach seinem Ratschluss und nach der Gnade, die uns gegeben ist in Christus Jesus vor der Zeit der Welt, jetzt aber offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium
2. Timotheusbrief 1,7–10
Predigt:
Liebe Gemeinde,
manchmal braucht es den Rückblick, um die Gegenwart zu verstehen. Paulus, vielleicht ist es auch ein Schüler von ihm, hockt in einer Zelle, oder genauer gesagt, in einem Kerker. Irgendwie hatte man ihm etwas zum Schreiben besorgt. Gegen eine Essensration vermutlich, ein Stück Brot, eine Gefälligkeit, wer weiß? Paulus sitzt, nein er hockt gekrümmt, aber es geht: Schreiben, das kann er immer. Der Apostel schreibt, einen Brief, das sammelt seine Gedanken. Timotheus, keiner aus dem Kreis der Apostel, ist ihm näher. Timotheus, das Wort vom Kreuz, er hat es verstanden. Er soll, nein, er muss von ihm hören, er will ihn mahnen und warnen.
So eine Gefängniszelle ist kein warmes und sonnenhelles Komfortzimmer im Ahlbecker Hof und keine Suite in Das Ahlbeck. Um etwas Licht in das Dunkel zu bringen, braucht es eine Erinnerung an das Licht. Du musst wissen, was dich hält und dein Leben heller macht. Du brauchst Erinnerung, um die Gegenwart zu bestehen. Und die Feder des Apostels kratzt hart über den Papyrus. „Gott hat uns nicht gegeben den Geist der Furcht, sondern der Kraft und der Liebe und der Besonnenheit.“ Er muss diese Worte nicht erst suchen. Hundertmal hatte er sie laut gesagt, in die dunkle Zellennacht hinein, und tausendfach hatten die harten Wände sie als Echo klingen lassen. „Kraft“, „Liebe“, „Besonnenheit“ – welche Ruhe solche Worte verbreiten können. Nun stehen sie vor ihm in Tinte geschrieben.
In meinem Konfirmandenunterricht hieß es immer: Auswendig lernen. Und dann erklärte man uns, wenn es uns mal ganz schlecht gehen würde, helfen die alten Texte. Unser Pastor erzählte von einer Erdhöhle, in die er hineingeraten war. Damals im Bergbau, als er in den Ferien Geld verdienen musste. Ihm habe alles, was er auswendig wusste, geholfen in der Finsternis zu überleben. Alles, was ich aus der Bibel höre, all das Vergangene ist nicht weit weg, es leuchtet die Gegenwart aus.
Manchmal braucht es den Rückblick, um das jetzt zu verstehen. „Ich leide mit für das Evangelium in der Kraft Gottes“ schreibt der Gefangene. In guten Zeiten zu glauben, ist einfach, jetzt hier und in Krisen? Glauben kann man sich nicht selber abzwingen, als wäre es rein meine Sache. Christus entscheidet sich für uns. „Er hat uns selig gemacht und berufen mit einem heiligen Ruf,“ schreibt der Apostel. „Er“ nicht „ich“, denkt er und unterstreicht mit seiner Feder das „er“. Da weiß er sich dem Freund Timotheus, der fern ist, ganz nah. Christus hat sie gerufen, Paulus und Timotheus. Christus, mit lauter Stimme hat er ihn, den Paulus, in den Glauben hineingerufen. Genau so, wie er es am Grab des Lazarus getan hat: „Komm heraus!“ Das heißt: Tritt ins Leben hinein. Ich habe dich neu erschaffen, dich verändert. Und als der Apostel daran denkt, ist es, als höre er die Stimme Jesu noch immer. Damals und heute sind sich häufig näher als man denkt. Die Gefängnismauern sind kalt und das wenige Licht, das eindringt, reicht gerade zum Schreiben. Aber in seinem Kopf ist alles ganz klar.
Am Freitag saßen wir vorne in der Ahlbecker Kirche. Mit Konfirmandinnen und Konfirmanden. „Mein Glaube“, ist unser Thema. Wir bereiten Beiträge für den übernächsten Gemeindebrief vor. Die jungen Leute suchten nach Symbolen des Glaubens, Symbolen, die ihnen etwas bedeuten. Unsere Kirche ist voll davon. Eine Konfirmandin erzählte, wie sie das erste Mal diese Geschichte von Jesu Hand hörte, die Christus dem sinkenden Petrus entgegenstreckt, ihn kraftvoll hochzieht. Und die Konfirmandin erzählt sie so, als wäre das heute. Denn es ist kein Rückblick, sondern die Geschichte einer Rettung, die sich heute ereignet. So birgt uns der Glaube, diese feste Geste Jesu und rettet uns aus den Gefahren unseres Lebens.
Und ich sah, während sie sprach, die Menschen im Mittelmeer, die aus der tobenden See an Bord sicherer Schiffe gerettet werden. Manchmal braucht es den Rückblick in Jesu Leben, um die Gegenwart zu verstehen und Rückschlüsse zu ziehen.
Es liegt in der Zelle nicht viel vom wertvollen Papyrus bereit, dass der Apostel sich in seinem Gefängnis „organisiert“ hat. Er fasst sich kurz. Gnade, die „offenbart ist durch die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, der dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht hat durch das Evangelium“, schabt der Federkiel auf die raue Oberfläche. Und der Apostel weiß, was Timotheus verstehen wird: In allen Erinnerungen an Jesus Christus lebt die Auferstehung mit. Immer wenn über Jesus gesprochen und geglaubt wird, nimmt der Glaube dem Tod die Macht und es kommt sein unvergängliches Wesen an das Licht.
Du bleibst nicht ewig sitzen in deiner Zelle im Gefängnis, auch nicht im Komfortzimmer oder deiner Suite. Auch dein Schmerz, diese Furcht, selbst die Angst, die einen plagt, ist vergänglich. Unvergänglich ist nicht der Kerker, der wird verschwinden, auch nicht diese Grabeshöhle, in die sie schon den Lazarus gelegt hatten. Das alles wird die Archäologie mühsam suchen und nicht finden. Im Schummerlicht ist es etwas heller, er setzt dann, bevor er weiter schreibt, doch einen Punkt. Die Feder ruht.
Manchmal braucht es den Rückblick, um die Gegenwart zu verstehen. Der Apostel sieht in die trübe Tinte: „Schäme dich nicht des Zeugnisses von unserm Herrn noch meiner, der ich sein Gefangener bin“ liest er, das hat er geschrieben. Wie dieser Brief aus dem Gefängnis, zu Timotheus gekommen ist? Wir wissen es nicht. Wir wissen aber: die Erscheinung unseres Heilands Christus Jesus, hat dem Tode die Macht genommen und das Leben und ein unvergängliches Wesen ans Licht gebracht durch das Evangelium. – gemeinsames Glaubensbekenntnis
Wort zum Sonntag am 12.09.2020 in der OSTSEE-ZEITUNG
Loben wirkt Wunder
Ein Mathematiklehrer schreibt zehn kleine Aufgaben an die Tafel. Die Lösung notiert er gleich dahinter. Das Einmalneun, die Schülerinnen und Schüler sprechen laut mit: 1 x 9 = 9, 2 x 9 = 18, 3 x 9 = 27. Als 9 x 9 = 81 an der Tafel steht, schließt er die Reihe mit 10 x 9 = 91. Die Schülerinnen und Schüler werden unruhig, lachen. „Das ist doch falsch, Sie müssen 90 schreiben“, ruft eine Schülerin laut in den Raum.
Der Lehrer wartet. Als es etwas ruhiger wird, sagt er „Ich habe diesen Fehler absichtlich gemacht, um euch etwas zu zeigen. Ich habe neun Aufgaben richtig gelöst, und nur einen Fehler gemacht. Statt mir zu gratulieren, dass ich neun von zehn Aufgaben richtig gelöst habe, wird über meinen einen Fehler gelacht.“ Die jungen Menschen schweigen betroffen. Da sagt der Lehrer: „Wir müssen lernen, Menschen für ihre Erfolge zu loben. Glaubt mir, die meisten Menschen machen viel mehr richtig als falsch.“
Die Sehnsucht nach Lob und Anerkennung liegt auf dem Grund jeder Seele. Häufig ist die verborgen, aber diese Sehnsucht will berührt werden. Sie begleitet uns Menschen von der Wiege bis zur Bahre. Mit Lob und Dank lebt es sich leichter. Bei hohen Geburtstagen singen wir häufig den Choral „Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren.“ Da tritt mit dem Text das, was hart ist und auch voller Fehler, bei Seite. Der Urheber allen Lobs kommt in den Blick. Psalm 103 sagt „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.“ Gott sorgt für solche frischen Gedanken. Er klebt nicht an den Fehlern, er sortiert sie bei Seite. Viele Gedanken, die um die Sorgen kreisen, macht er kleiner. Das Loben wirkt Wunder. Gottes Gnade bleibt der Ernstfall.
Mit diesem Schultag veränderte sich etwas, nicht nur im Mathematikunterricht. Es war, als zögen nun leichtere Gedanken durch das Klassenzimmer. Die jungen Leute spürten, mühelos lässt sich das Klima verbessern. Sie sprechen jetzt wohlwollender von den anderen. Mit WhatsApp sind sie behutsamer, auf Facebook setzen sie viel mehr „Likes“ als früher. „Ich möchte ihnen damit nahelegen, dass es gut ist, mehr zu loben, und weniger zu kritisieren“, hatte der Lehrer ihnen am Ende der Stunde gesagt.
Diese Geschichte mit dem Mathematiklehrer verbreitet sich seit Wochen auf Facebook. Tausendfach haben Menschen sie an Freundinnen und Freunde weitergeschickt. Es wirkt fast so, als hätte jemand rechtzeitig vor dem Erntedankfest das Loben neu entdeckt.
Henning Kiene, Pastor in Ahlbeck und Zirchow
Evangelium und Predigttext:
Jesus sagte aber zu einigen, die überzeugt waren, fromm und gerecht zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand und betete bei sich selbst so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden. Lukasevangelium 18,9–14
Predigt:
Liebe Gemeinde,
bei einem meiner Geburtstagsbesuche komme ich zu einem Jubilar, der bis vor wenigen Jahren eine große Hotelküche geleitet hat. „Ich war Koch“, sagt er, erzählt von dem Ferienheim, für das er früher gekocht hat, „250 Essen mussten in einer Schicht raus.“ Später ging es noch immer um Qualität, die Ansprüche waren anders, noch vielfältiger. Dann kam der Ruhestand. Wo er denn jetzt, selbst gerne essen gehe, fragte ich. Er nannte mir drei Namen von drei Restaurants. Zweifellos die Besten aus seiner Sicht. Und dann sagt er: „Die sind wirklich gut“ er schweigt, ist angespannt, denkt weiter und dann fügt er an „aber alle anderen auch!“ Dann lächelt er, lehnt sich entspannt zurück. Und ich spüre die Erleichterung. Es wäre ein Leichtes gewesen, die anderen nun aus dem Blick zu lassen.
Fast wäre er, der gestandene Küchenchef, von mir angestiftet und natürlich unfreiwillig, in die Rolle des Pharisäers hineingeraten. Er hätte sich zu Ungunsten der anderen selbst profilieren können. „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute“, das ist wie ein Brennglas, in dessen Fokus dieser gestandene Mann fast geraten wäre. Jedem und jeder von uns mangelt es nicht an Gelegenheit, selbst so zu sprechen, wie er es tat: „Ich danke dir Gott, dass ich nicht bin wie die anderen.“ Dabei hat der Pharisäer tatsächlich alles richtig gemacht, gespendet, gefastet, zu dem Tempel hinaufgestiegen und gebetet hat er. Da ist kein Fehler in seinem Leben. Erst als er sich auf Kosten anderer profilieren will, geht es schief.
„Der Vergleich ist vom Teufel“, sagte meine Großmutter, die keineswegs an den Teufel glaubte. Der Vergleich ist eine Geißel in der Menschheitsgeschichte: Aus dem Augenwinkel hinüberblinzeln, in das Leben des anderen Menschen hineinsehen. Wie schon Kain auf das Opfer seines Bruders Abel blickt und die Überlegenheit des einen den anderen zum Mörder macht. Wenn man das, was man da an der Oberfläche sieht, dann noch für das Ganze nimmt, geht es schief. Es ist ausgerechnet ein Pharisäer, der mit Sicherheit nichts Unrechtes getan, nichts an sich genommen hat, der gewiss nichts beansprucht hat, was ihm nicht zusteht, der kein Zöllner ist sondern ein Diener. Genau der Fromme gerät hier unter das Brennglas. „Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, so koche, lebe, glaube, so wähle, so denke, so hoffe, so tut, wie sie es tun“, das sagt sich leicht, das sagt sich schnell. Mal eben so in die Welt gesetzt, hinter vorgehaltener Hand jemandem anderen anvertraut, vielleicht, nur so gesagt, ohne richtig böse Absicht, auch Gott ins Ohr geflüstert, aber es erzeugt maximalen Schaden. So möchte niemand von uns entlarvt werden, so, wie Jesus diesen Pharisäer vor uns.
Da ist ein Rest unverträgliche Kindlichkeit hängen geblieben, die dem Pharisäer ein offensichtlich überflüssiges Gebet auf die Lippen legt. Und dann schweigt man, denkt einen Moment über sich selbst nach und an das, was man selbst denkt und immer wieder sagt und dann fügt man an: „Aber alle anderen auch!“ Und jede und jeder weiß, nur weil ich vielleicht gerechter, klüger, reicher, konformer, treuer, richtiger bin als andere, bin ich keinen Deut besser als andere es sind. Erst recht nicht vor Gott.
Das ist die Freiheit, die Jesus uns mit einem Gleichnis schenkt. Es ist die Freiheit nicht so sein zu müssen, wie in diesem Gebet der Pharisäers. Anders zu beten und zu leben als er betet, das ist die Freiheit, die aus dem Lukasevangelium spricht. Dieses „ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner“ klingt seit Jesus abgeschmackt von gestern. Der Evangelist Lukas wird gerne als der Evangelist der armen Menschen bezeichnet. Dass der Zöllner hier im guten Licht steht, liegt nicht an seinem Leben, nur an seinem Gebet. Sein „Gott sei mir Sünder gnädig“, tritt an die Stelle des „ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute“. Das ist das Geschenk Jesu, sich nicht auf Kosten des anderen Menschen groß machen zu müssen.
Meine Vorfahren lebten in der Marsch. Das ist Land, das früher bei hohen Wasserständen der Nordsee „Land unter“ meldete. Die Höfe mit Stall und Wohnhaus lagen auf Warften. Das sind künstlich aufgeschüttete Hügel. Bei schweren Fluten mit starkem Orkan war Land unter, aber die Höfe, die Tiere, die Menschen überlebten auf ihren Hügeln, die aus den Wassermassen ragten. Das waren schwere Zeiten, voller Angst. In solchen Sturmnächten ließ man das Licht brennen in der Stube, auch im Stall. Für die Nachbarn war das wichtig. Die sollten sehen können, dass die Warft nebenan dem Ansturm Stand hielt. Wenn das Licht erlosch, wäre das Zeichen des nahen Untergangs gewesen. Und da saßen sie, unsere Vorfahren und blickten in die schwarze Nacht und waren ruhig, solange beim Nachbarn Licht war. Und selbst auf den Höfen, mit denen man im Zwist lebte, die Großen, die Reichen, die niemanden brauchten, weil sie immer alles richtig gemacht hatten, ließen das Licht brennen. In solchen Nächte versiegte das Gebet, „ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute“. Es blieb einem nichts anderes übrig als zu sprechen „Gott, sei mir Sünder gnädig!
Predigt Rundfunkgottesdienst auf NDR Info am 2. August 2020, 10.00 Uhr im Ostseebad Heringsdorf mit den Kirchengemeinden Ahlbeck, Heringsdorf-Bansin und Zirchow - Thema: „Kinder des Lichts“
Predigttext: Johannes 9,1-7
Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war. Und seine Jünger fragten ihn und sprachen: Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er blind geboren ist? Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern, sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm. Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt. Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden und sprach zu ihm: Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.
Liebe Gemeinde,
große Glasfenster, hohe, kunstvoll verzierte Veranden, helle, vom Licht durchflutete Räume. Die Architekten und Baumeister an der Ostsee haben schon immer viel vom Licht verstanden. Und ich stelle mir vor, wie vor über 100 Jahren die Berlinerinnen und Berliner, vor allem die Wohlhabenden, zur Sommerfrische auf die Insel reisten. Raus aus den Stadtwohnungen, rein in einen hellen, vom Licht durchfluteten Sommer. Sommerfrische war schon damals so etwas wie Lichttherapie für Menschen, die dem lauten und engen Leben auf Zeit entfliehen konnten. Raus aus den steifen Uniformen, den Zwängen, der Enge, dem Mief der Kaiserzeit. Rein ins Licht, in die strahlend weißen Villen, die sonnendurchfluteten Veranden und in die herrlich züchtigen und weit geschnittenen Bademoden, die immerhin ein wenig Sonne an die Haut ließen. Licht am Meer verschiebt die Wahrnehmung.
Die meisten Menschen können von Geburt an sehen. Gott sei Dank. Wir sind Lichtwesen, das Auge steht für die Farben, das Bunte, das Helle, die Lust und Leidenschaft. Licht ist Kommunikation. Licht ist Therapie. Licht ist Schöpfung. Gerade an Tagen, die eher dunkel wirken und auch von inneren Ängsten besetzt sind, wissen wir das am allerbesten.
Wenn Jesus auf die Erde spuckt, sich tief bückt – ich sehe ihn hocken – und im Schatten einen Brei anrührt, ein heilendes Mittel, dann sagt er, mehr zum Boden gerichtet als zu den Umstehenden, „wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist. … Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“
Das sagt der Glaube bis heute, und der Glaube ist Licht in der Welt. Jesus rührt einen heilenden Brei, streicht ihn behutsam auf die blinden Augen.
Markus, ein Freund, ist vor einigen Jahren erblindet, hat sein Augenlicht vollständig verloren. Das war eine Katastrophe. Vor einigen Tagen habe ich ihn gefragt, was er heute eigentlich sieht. „Schwarz“, sagte er. Aber er wisse noch genau, was Sehen sei, trüge die Gesichter und alle Farben weiter in sich. Und er erzählt, wie er damals – alles war noch frisch – von der Klinik nach Hause reiste. In Schwarz getaucht zogen die grauen Schatten einer Stadt an ihm vorbei. Es war wie ein Abschied vom Sehen. Das Fühlen, das Hören, das Wissen ersetze ihm vieles, aber nicht alles, nein, das Augenlicht fehle ihm, noch immer. Aber wenn er jemanden bittet, ihm über die Straße zu helfen oder die Richtung zu weisen, dann bieten ihm die meisten an, ihn nicht nur über die Straße, sondern gleich bis nach Hause zu begleiten. Es gebe viel Hilfe. Nur einmal habe man ihn hilflos stehen lassen.
Er erzählte dann vom „Blindfisch Johanna“. Johanna ist von Geburt an blind. Sie ist Schülerin. Johanna erklärt auf ihrem YouTube Kanal, was „von Geburt an blind sein“ wirklich heißt. „Blindfisch Johanna“ sagt, sie kenne kein Schwarz, nicht mal das, sie habe ja nie im Leben etwas gesehen, auch keine Schatten. Und wenn ihr Menschen begegnen, dann geht es niemals um deren Aussehen, wichtig sei, ob jemand höflich ist, gut riecht, eine sympathische Stimme hat. „Blindfisch Johanna“ erklärt, Vertrauen wächst durch die Stimme und deren Klang.
Und ich höre Jesu Stimme „wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange es Tag ist. … Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“ Das klingt sympathisch und das ist sympathisch.
Im ursprünglichen Sinn des Wortes, denn Jesus schließt die Blinden ein, lässt weder die Lahmen außen vor, noch die Kranken, noch unsere Sterbenden, er lässt auch den Schuldigen nicht im Schatten stehen und hängt erst recht nicht die Verzweifelten ab. Darum kümmert sich unsere Kirche auch um die Kranken und die Sterbenden, die Gefangenen, die Flüchtenden und erhebt ihre Stimme für die Armen.
Wir haben das in diesen letzten Monaten auch hier erlebt, auf Usedom, wie gut uns gegenseitige Sympathie tut. Auch mit äußerem Abstand, den wir hier vor der Kirche wahren, kann man sich nahe sein. Manchmal reichte ein Wort, nur das Angebot zu helfen lindert Einsamkeit. Es gab Begegnungen mit Menschen, die schon immer in der Nachbarschaft leben, die wir aber ganz neu kennen gelernt haben.
Sympathie ist wie ein Lichtspiel, das zunächst in das Leben des Blinden einfällt. Und Jesu Sympathie reicht weiter, erreicht auch die Sehenden. Jesus streicht seinen Brei auf die Augen und sagt: „Geh zu dem Teich Siloah – das heißt übersetzt: gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.“ Das ist die Lichttherapie Jesu, Sonne fällt ein, flutet das Leben der Blinden und erhellt uns, die Sehenden. Es wird heller, wie durch die Sonne, die durch große Fenster unsere inneren und äußeren Räume ausfüllt. Eine sympathische Stimme, ein guter Duft zieht durch das Leben, schafft Vertrauen.
Wie so oft öffnet der Glaube neue Perspektiven für die Nächsten, für die Fernen, für die, die schon lange auf etwas warten und auf helle Zeiten hoffen. Mindestens Trost spendet der Glaube, in jedem Fall einen überraschenden Lichteinfall.
In der Kaiserzeit verbrachte der Maler Lyonel Feininger viele Sommer hier auf Usedom. Mit seinem Fahrrad war er täglich unterwegs, legte lange Strecken zurück. Er stieg immer wieder ab, blieb stehen oder hockte sich hin. Mit schnellen Strichen skizzierte er, fertigte sogenannte Natur-Notizen. Diese Skizzen wirken, als folge der Maler den Spuren des Lichtes. Ihm reichen nur einige Striche, die Landschaft erscheint, der Himmel und das Meer, ein Segel zieht vorbei, eine Wolke steht am Horizont. Sparsam durchdringt das Licht die Dinge, gibt ihnen Kontur. Licht ist schöpferisch. Er bewahrte diese Skizzen auf und nahm sie mit, als er – von den Nazis hart bedrängt und mit dem Wort entartet diffamiert – nach New York emigrieren musste. Als er Jahrzehnte später ein Bild nach einer dieser Skizzen malt, fällt genau dieses ursprüngliche Sommerlicht ein, das er von der Ostsee kannte und vor seinem inneren Auge bewahrt hat. Wie in uns nach guten Ferienzeiten die Erlebnisse, die Düfte, die Sympathien, die wir aufbauen, noch lange Zeit weiter wirken und häufig ihre ursprüngliche Kraft bewahren. Helle Tage wirken immer nach.
Der Künstler kommt in vielen Bildern dem Glauben, dem „Licht der Welt“, überraschend nah. Wenn er eine Kirche zeichnet, dann fällt häufig Licht durch die Fenster, von innen nach außen und es wirkt, als solle es in die Welt eindringen. Wie eine gemalte Aufforderung an uns: Seid Licht, liebe Christinnen und Christen, mit eurem ganzen Glauben! So wie das Licht der Welt, Christus, so leuchtet auch ihr.
„Der Gegenstand ist nichts, das Sehen ist alles“, schreibt Feininger an einen Freund.
„Das Sehen ist alles“, da strich Jesus ihm den Brei auf die Augen und sprach „geh zu dem Teich … und wasche dich! … und der kam sehend wieder.“
Musik: Georg Philipp Telemann (1681-1767), „La Gráce“ aus der Suite in D-Dur
„Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“, sagt Jesus. Ich versuche mir auszumalen, wie der Blinde urplötzlich alles sieht. Es müsste ein Sinnesrausch sein, der ihn wie eine Welle überrollt. Was ist Weiß? Was ist Schwarz? Ganz zu schweigen von Rot, Blau, Gelb, Grün, von Hell und Dunkel. Ist es Glück, alles sehen zu müssen, auch das Leid? Sein Herz rast wild. Was ist groß, was ist klein? Seine Sinne sind auf das Hören, das Tasten, die Düfte, die Suche nach einer sympathischen Stimme eingestellt. Jetzt, die Augen am Teich Siloah gewaschen, sehen? Er schließt die Augen, presst sie fest zu, hält die Hände vor das Gesicht, will sehen und dann auch nicht. Das erste Mal sieht er das tieefe Schwarz. Und weiß endlich, was das ist. Dann lässt er die Lider langsam locker, durch die geschlossenen Augen hindurch bricht sich dieses Schwarz rötlich. Das ist Sehen, unterscheiden können. Er blinzelt wieder, nun nur leicht zwischen den Augenlidern hindurch. Er will sich gewöhnen. Ja, das will er jetzt, sehen. Auch dann, wenn er alles sehen muss, Jesus es ihm zumutet, auch die Tränen, die andere weinen und die entsetzt aufgerissenen Augen der Ängstlichen. Es rauscht in seinen Ohren, und der Boden wankt unter seinen Füßen. Jesus macht es ihm nicht leicht. Und er weiß, er wird schnell laufen können und nicht stolpern. Und die Gesichter, der Menschen, die sind so schön. Augen wie Sterne und ein Lächeln ist kostbar.
Die Bibel gibt wenig über ihn preis. Ich wüsste zu gerne, ob es Tage, Monate, Jahre gebraucht hat, damit der Blinde wirklich zum Sehenden geworden ist. Seine Ohren aber, da bin ich mir sicher, werden immer dieser sympathischen Stimme nachlauschen. „Ich bin das Licht der Welt.“
Ob „Blindfisch Johanna“, von Geburt an blind, vom Sehen träumt? Ich werde ihr eine Mail schreiben und sie fragen.
Wir wissen, dass Jesus Menschen sehend macht, damit sie hinsehen, genau hinsehen und auch hinhören, genau hinhören. So wie wir heute sehen, was ist, die Freude, wie die Not.
Jesu Wort ist sympathisch. „Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“ Solches Licht der Welt will man sehen. Und häufig fällt es, wie durch große Fenster, in unser Leben ein. Es wird bleiben, wie die Farben dieses Sommers, die legen sich ab, mit all dem Licht, in das Reich unserer Erinnerungen und leuchten weiter.
Thomas Mann verbrachte – das Kaiserreich war zu seiner Zeit Vergangenheit – seine „Sommerfrische“ in Ahlbeck. Er schrieb hier an seinem Roman „Der Zauberberg“. Obwohl das Buch in den Bergen spielt, in einem Lungensanatorium, führt Mann seine Leserschaft an das Meer. Er nimmt sie mit auf einen Spaziergang an unseren weit auslandenden Strand.
„Wir gehen, gehen auf leicht federndem, mit Tang und kleinen Muscheln bestreutem Grunde, die Ohren eingehüllt vom Wind, von diesem großen, weiten und milden Winde, der frei und ungehemmt und ohne Tücke den Raum durchfährt … Die Brandung siedet, hell-dumpf, aufprallend rauscht Welle auf Welle seidig auf den flachen Strand, – so dort wie hier und an den Bänken draußen, und dieses wirre und allgemeine, sanft brausende Getöse sperrt unser Ohr für jede Stimme der Welt. Tiefes Genügen, wissentliches Vergessen … Schließen wir doch die Augen, geborgen von Ewigkeit. Nein, sieh, dort in der schaumig grünen Weite, die sich in ungeheuren Verkürzungen zum Horizont verliert, dort ein Segel.“
Was Thomas Mann sieht und hört, was er hier an der Ostsee mit allen Sinnen fühlt, wirkt so stark, dass er es mitnimmt an seinen Schreibtisch und wachrufen kann für seinen Roman, seinen Leserinnen und Lesern dafür die Augen offenhält. Die Erinnerung an das Licht reicht über die Zeit hinweg, öffnet neue, weite Dimensionen. Schließen wir die Augen, nehmen wir die sympathische Stimme in uns auf, hören und sehen ihn, „Geh zu dem Teich Siloah … und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend wieder.“ Pastor Henning Kiene, Kurparkstraße 2, 17419 Seebad Ahlbeck, pastor@pfarramt-ahlbeck-zirchow.de
Ostseezeitung Ausgabe Insel Usedom am Sonnabend/Sonntag 04./05. Juli 2020
DAS WORT ZUM Sonntag
Ostsee statt Mittelmeer: ein Sommer der Kompromisse
„Wir hatten uns auf das Mittelmeer gefreut und nun sind wir an der Ostsee gelandet“, höre ich im Stimmengewirr auf der Promenade, „es ist einfach ein Kompromiss.“ Die Stimme klingt heiter, Ostsee ist ein guter Kompromiss. Der Sommer 2020 wird für uns zu dem Sommer der Kompromisse. Was in diesem Jahr nicht geht, wird getauscht gegen das, was möglich ist. Ostsee statt Mittelmeer. Die Jugendfreizeit, sonst in Schweden, führt nach Zinnowitz. Die Hochzeit wird im kleinsten Kreis gefeiert. Das große Fest fällt aus. Ein Blick in die Augen ersetzt die Umarmung und eine Verbeugung den Händedruck. Auch die in Kurzarbeit leere Familienkasse, verändert manchen Ferienspaß. Vieles ist nicht automatisch schlechter, es ist einfach nur ganz anders.
Der Kompromiss ist eine „Übereinkunft durch gegenseitige Zugeständnisse“, steht im Duden. Die alten Römer erfanden diese Art des Interessensausgleichs. In der Bibel schreibt der Apostel: „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“ (Galater 6,2). Der Kompromiss wurde zum abendländischen Kulturgut. Die heute ausgeprägte Bereitschaft, sich gegenseitig zu schützen, vertraut diesem alten Wissen.
Das: „Einer trage des andern Last“-Prinzip ist einfach, mal gibt der eine und die andere nimmt. Dann aber gibt die andere und der eine kann nehmen. So gelingen Ehen, so halten Familien zusammen. Unsere Gesellschaft ist nach diesem Prinzip geordnet. Es geht darum, dass kein Mensch mit seinem Leben ganz allein zurechtkommen muss. Alle schöpfen aus guten Kompromissen. Die Maske, die ich über Nase und Mund trage, ist ein Kompromiss zu Gunsten der anderen Menschen. Das macht man doch gerne. Den größeren Abstand zu dem Nächsten einzuhalten ist ein Zugeständnis, von dem alle Menschen profitieren. Der unterdrückte Reflex, die Hand zu reichen, hilft. Das Zugeständnis fällt schwer, aber es wirkt.
Auf zahlreichen Urkunden zur Konfirmation und Hochzeit steht das „Einer trage des andern Last“-Prinzip. Gott hat es sich eigen gemacht, er trägt schwer. Das erleben wir jetzt gerade. An den Orten, an denen keine Zugeständnisse gemacht werden, droht das Chaos. Elend wächst weltweit. Bei uns ist kein Chaos. Wenn jemand „Ostsee statt Mittelmeer“ zum Kompromiss erklärt, dann geht es uns wieder sehr gut. Und die Ostsee und dieser Sommer belohnen uns mit herrlichen Sommertagen. Es ist wie ein Werbeprospekt für solche Kompromisse.
Henning Kiene, Pastor in Ahlbeck und Zirchow
3. Sonntag nach Trinitatis – 28. Juni 2020
Wochenpsalm: Psalm 103,1-13 - Evangelium: Lukas 15,1–3.11b–32
Predigttext: Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast. Micha 7,18-20
Predigt: „Im besten Fall jagt er mich nicht gleich vom Hof“, sagt er sich selbst und geht weiter. Zurück nach Hause. Es wenigstens versuchen, beim Vater. Beim Abschied waren seine Taschen prallvoll. Geld stand für Freiheit. Jetzt klimpern zwei letzte Groschen gegeneinander. Armut steht für Ausweglosigkeit. „Wenigstens Tagelöhner, das wäre schon sehr viel“, sagt er sich. Und dann der Satz, den wiederholt er immer wieder: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir“.
Was kann er erwarten? Bestenfalls: Tagelöhner, Leiharbeiter im Zerlegungsbetrieb, Erntehelfer, Hof fegen, höchstens Mindestlohn, eine Matratze zum Schlafen, die er sich mit den Männern anderer Schichten teilt. Bestenfalls ließe sich die Rückkehr so vorstellen.
Was kann man im besten Fall erwarten? Schon der Prophet Micha ist eher pessimistisch, eben Unheilsprophet: „Es ist aus – so wird man sagen –, wir sind vernichtet! Meines Volkes Land kriegt einen fremden Herrn!“ (Micha 2,4b). Die Kritik zielt auf die Herrschenden: „Aber ihr hasst das Gute und liebt das Arge; ihr schindet ihnen die Haut ab und das Fleisch von ihren Knochen und fresst das Fleisch meines Volks“ (Micha 3,2-3.a) Und die, die angesprochen sind, hören weg, sehen beiseite, denken, die seien nicht gemeint, schieben die Schuld den anderen zu.
Was kann man im besten Fall erwarten? Dass da einer endlich mal nicht die ganze Kette der Fehler, die angeblich nur andere gemacht haben, bis zum Anfang nachverfolgen will. Nicht sagt: Es sind die anderen, nur einer nicht, ich. Dass auch einem gestandenen Politiker etwas anderes einfällt, als den Arbeitern die Schuld an ihren Rieseninfektion zu geben. Man hatte sie schließlich geholt, weil niemand mehr diese Arbeit machen will. Das Suchen nach Schuld beginnt allzu leicht bei den anderen, und oftmals bei denen in der Ferne. Nur ich, ich bin nicht dabei. Die selbst attestierte, eigene Unschuld passt, so denkt man, auf den ersten Blick immer. Schuld ohne mich, das macht aber einsam, vor Menschen und vor Gott.
„Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir“, die letzten beiden Groschen klimpern leise tief in der Tasche, er hört sie mit jedem Schritt. Dass er „ich“ sagt, ist in vielerlei Hinsicht schon einen Schritt weiter. Das hat der Hunger befördert, oder die Schweine, aus deren Trog er nicht nehmen durfte, oder es ist seine Erinnerung an die Bibel, aus der ihm vorgelesen worden war. Den Propheten Micha kannte er, von dem wusste er: „Ich will dich, Jakob, sammeln ganz und gar und, was übrig ist von Israel, zusammenbringen. Ich will sie wie Schafe miteinander in einen festen Stall tun und wie eine Herde in ihre Hürden, dass es von Menschen dröhnen soll“ (Micha 2,12). Es braucht die Bibel, die dieses „Ich“ und meine Beteiligung in unsere Gedanken einführt. Dieser Satz, „ich habe gesündigt“, ist urbiblisch. Überhaupt ist der Gedanke, dass alles, was schief läuft, nicht nur von anderen verursacht wird, biblisch.
Was kann ich im besten Fall erwarten? „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der HERR von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten und Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ (Micha 6,8), das ist die Summe der Tora, aller Gebote Gottes. Micha war kein reiner Unheilsprophet.
Was kann ich selbst im besten Fall erwarten? Dann tritt der beste Fall ein. Und der beste Fall ist besser als alle anzunehmenden Fälle es hätten sein können: „der Herr hat Gefallen an Gnade!“ (Micha7,18), heißt es plötzlich. Das Unheil verpufft. Und die zwei letzten Groschen klimpern immer noch ganz leise in der Tasche, als der Vater ruft: „Bringt schnell das beste Gewand her und zieht es ihm an und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße und bringt das gemästete Kalb und schlachtet's; lasst uns essen und fröhlich sein!“ (Lukas 15,22) Man rechnet mit allem, nur nicht damit. Man rechnet mit einem Gericht, mit Schweigen, Erniedrigung, Züchtigung, mit dem Untergang der letzten Hoffnung mit gründlicher Suche nach Schuld. Glaube kann Gnade immer nur ahnen und darauf hoffen. Nur nicht damit rechnen: „Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen“ (Micha 7,19).
Und doch hofft jede und jeder auf den besten Fall. Dann, wenn einem die letzten zwei Groschen, ein letzter Rest Hoffnung in der Tasche klappert, wenn jemand sagt: „Ihr werdet keinen Anteil behalten in der Gemeinde des Herrn“ (Micha 2,5), bleibt da die Gnade. Es muss doch auch ein anderes, besseres Ende geben als Abweisung, Kälte, Schultern zucken, als: „Ist doch egal“, oder: „Die da sind schuld“. Genau in diesem Moment löst sich Vom Horizont eine Gestalt, läuft mit großen, ungeübten Schritten auf ihn zu. Da: „Sah ihn sein Vater und es jammerte ihn, und er lief und fiel ihm um den Hals und küsste ihn“ (Lukas 15,20). Denn er, der Herr hat Gefallen an der Gnade. Amen
2. Sonntag nach Trinitatis – 21. Juni 2020
Wochenpsalm: Psalm 36,6–10 - Evangelium: Lukas 16,19-31
Predigttext:
Zu der Zeit fing Jesus an und sprach: Ich preise dich, Vater, Herr des Himmels und der Erde, dass du dies Weisen und Klugen verborgen hast und hast es Unmündigen offenbart. Ja, Vater; denn so hat es dir wohlgefallen. Alles ist mir übergeben von meinem Vater, und niemand kennt den Sohn als nur der Vater; und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will. Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft, und meine Last ist leicht. Matthäus 11,25-30
Predigt:
Am Ostseestrand: Paare wandern Hand in Hand. Blasse Gesichter strahlen in der Sonne. Kinder errichten sandige Bauwerke. Erleichterung ist seit Pfingsten mit Händen zu greifen. „Wir haben viel geschafft.“ Eine schwere Last weicht. Die Schultern entspannen. Ein Zwischenraum, Ferienzeit öffnet sich zum tiefen Durchatmen. „Der Himmel schickt solche Ruhe“, sagt jemand trotz Seenebel. Paul Gerhard dichtet:
„Er weiß viel tausend Weisen, / zu retten aus dem Tod,
ernährt und gibet Speisen / zur Zeit der Hungersnot,
macht schöne rote Wangen / oft bei geringem Mahl;
und die da sind gefangen, / die reißt Er aus der Qual.“.
Wir ahnen, dass Vieles für eine lange Zeit ganz anders sein wird. Und trotzdem ist uns das Joch seit Wochen Tag für Tag leichter geworden, aber vor allem für uns hier in unserem Land. Ich bin davon überzeugt, dass wir an unseren Seelen auch durch unseren Glauben bewahrt werden. Jetzt planen wir Ferienbeginn, Urlaub, Entspannung, ob hier in der Nähe oder dort in der Ferne ist plötzlich nicht mehr so wichtig. Unsere Gäste sind wieder hier. Schön, dass Sie da sind. Die Erleichterung ist mit Händen zu greifen.
Ich habe mir – seit Kindergottesdienstzeiten - immer vorgestellt, dass Jesus tatsächlich an all dem Schweren auch körperlich mitträgt. Kindlich habe ich mir ausgemalt, wie seine Hand, wir sehen sie ja am Kreuz, das Joch mit trägt, das Menschen auf der Schulter lastet, es leicht anhebt. Natürlich ist diese Vorstellung nur entfernt richtig. Aber im Kleinen Katechismus schreibt Martin Luther, wie das geht: „Ich glaube, dass Jesus Christus, … sei mein Herr, der mich verlorenen und verdammten Menschen erlöset hat, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels.“ Und ich füge hinzu: Vor der Angst, der Verzagtheit, dem Kleinlichen, das bleischwer wird. Solcher Glaube entlastet einen von der Furcht, die denkt, alles, was geschieht, läge nur in der Hand von uns Menschen. Wer meint, alle Geschichte sei nur und ausschließlich von Menschen gemacht, irrt. Diese Last wäre zu stark. Das Joch könnte niemand tragen. Das muss auch niemand tragen, denn Jesus sagt: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“
Der Glaube trägt das Joch, der Glaube an Jesus Christus hebt mit leichter Hand die Last auf der Schulter.
„Ich muss jetzt eine Kerze anstecken“, sagte eine Frau, die Freitag in unsere Kirche stürmte, „ich bin so dankbar!“ strahlt sie, „endlich wieder hier an der Ostsee! Und alle in meiner Familie sind gesund. Ich will Gott danken.“ Was es heißt, wenn das Schwere leichter wird, entdecken wir jetzt gerade neu. Und wie sehr uns das Hoffen und Beten im wahrsten Sinne des Wortes entlastet, auch.
Montag lief eine Reportage mit dem Titel „Wir schicken ein Schiff“. Da erlebte man im Fernsehen mit, wie durch ein breites gesellschaftliches Bündnis, das unsere Kirche gegründet hat, ertrinkende Menschen aus dem Mittelmeer gerettet werden. Und als ich dann spät in der Nacht im Bett lag, war ich erleichtert. Denn der Glaube an Jesus Christus bewirkt etwas, er schützt Menschen, die sonst untergehen würden. Dass andere solche Hilfe leisten, entlastet uns immer wieder: Notfallseelsorge hilft, Diakonie hilft, Schuldnerberatung hilft. Glaube macht auch indirekt so manches Joch, an dem wir alle tragen, leichter.
Wir empfangen eine Kraft, die den im Leben Bedrückten, die aufrechte Haltung zurückgibt. Und von dieser Kraft leben wir. Man muss nur an seine selbst erlebten Zeiten voller Mühsal und Belastung denken. Die kennen viele von uns. Da sind es häufig diese Tage, die voller Widerstand einen zu Boden drücken, in denen man sich geschützt weiß. Und Jesus stimmt im Matthäusevangelium in einem Moment ein Jubellied an, in dem ihn niemand wirklich verstehen will.
Erleichterung – nicht nur am Strand, beim Spaziergang, das reicht nicht, wirkt nur auf Zeit, immerhin. Wenn es einen Satz gibt, in dem alles von, über und mit Jesus zusammengefasst wird, dann diesen: „Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.“ Das dichtet Paul Gerhard:
Er ist das Licht der Blinden, / erleuchtet ihr Gesicht;
und die sich schwach befinden, / die stellt Er aufgericht´.
Er liebet alle Frommen, / und die Ihm günstig seind,
die finden, wenn sie kommen, / an Ihm den besten Freund.
Amen
1. Sonntag nach Trinitatis – 14. Juni 2020
Wochenpsalm: Psalm 43,2-11
Evangelium: Lukas 16,19-31
Predigttext:
Die Menge der Gläubigen aber war ein Herz und eine Seele; auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam. Und mit großer Kraft bezeugten die Apostel die Auferstehung des Herrn Jesus, und große Gnade war bei ihnen allen. Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte; denn wer von ihnen Land oder Häuser hatte, verkaufte sie und brachte das Geld für das Verkaufte und legte es den Aposteln zu Füßen; und man gab einem jeden, was er nötig hatte. Josef aber, der von den Aposteln Barnabas genannt wurde – das heißt übersetzt: Sohn des Trostes –, ein Levit, aus Zypern gebürtig, der hatte einen Acker und verkaufte ihn und brachte das Geld und legte es den Aposteln zu Füßen.
Predigt:
„Weißt du noch?“ fragte er kurz vor dem 30. Hochzeitstag. Und sie fingen an zu reden, von damals. Vom ersten Treffen, „du hattest den gestreiften Pullover an“, „der liegt noch immer im Schrank, ich habe den nie weggegeben“. „Wir redeten und ich spürte Vertrauen“, „und das wuchs immer weiter“, „wir waren ein tolles Paar“, „mit Schmetterlingen im Bauch“. „Weißt du noch? – Wir waren ein Herz und eine Seele‘“ und „wir teilten alles“. „Sag mal zehn Dinge, die du an mir mochtest“ – und als er fertig ist, sind es vielleicht sogar fünfzig. Und sie mussten sich nicht einmal mühen, es fiel leicht, diese ersten Schmetterlinge noch einmal fliegen zu lassen.
Es gab auch Auseinandersetzungen, es gibt noch immer Streit, dann fanden sie Kompromisse, mühsam errungen, noch immer, doch das spielt dann, wenn sie auf all die Jahre sehen, keine Rolle. Sie sind noch immer ein Herz und eine Seele. Martin Luther hat dieses Bild von dem einem Herzen und der einen Seele geschaffen. Er schließt alles zusammen, Denken, Fühlen, Wissen. Herz und Seele stehen für einen Einklang und erheben die Gegenwart über die Niederungen der alltäglichen Differenzen.
„Weißt du noch?“ - die Apostelgeschichte erinnert an die Anfänge der Kirche. Das war eine Zeit, in der die Weichen gestellt worden sind. Wem gilt das Evangelium? fragten sie. Allen, sagten die einen. Nur uns, sagten die anderen. Zu wem sollen wir gehen? Zu den Frommen? Zu den Heiden? Zu wenigen? Zu allen? Zu Paulus oder Petrus? Bleiben wir unter uns? Kommen Fremde dazu? Wem gilt die Zuwendung Gottes? Die Apostelgeschichte reiht die unterschiedlichen Streitigkeiten aneinander. Doch, es war wie an vielen Anfängen, hätte man sie gefragt, was sie über alle Differenzen zusammenhielt, dann hätten sie von Jesu Mahlgemeinschaft gesprochen. Die Gemeinschaft mit Jesus ging weiter, obwohl nicht mehr er das Brot brach, sondern sie es brachen. Von dieser ersten Euphorie in ihrer Kirche lebten sie, auch in allen Differenzen.
Damals saßen sie alle um einen Tisch und teilten alles, was sie hatten. Sie machten, was er, Jesus, ihnen vorgemacht hatte. Sie legten Brot, Fisch, Wein, Geld, zusammen und teilten. Und stellten fest, das Wenige, das einer besaß, reichte für alle. Überhaupt: Teilen konnten sie alle schon immer am besten. Niemand blieb auf seinen Sorgen hängen. Niemand wurde in Nöten allein gelassen. Man hatte ein Blick füreinander, achtete auf die Schwachen, wies die Starken zurecht. Dieser ungewöhnliche Blick für den anderen Menschen und dessen Bedürfnisse war von Jesus eingeübt. Das war wie heute ihr Gefühl für Schmetterlinge im Bauch. Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte; denn wer von ihnen Land oder Häuser hatte, verkaufte sie und brachte das Geld für das Verkaufte und legte es den Aposteln zu Füßen; und man gab einem jeden, was er nötig hatte.
Wer so einen Anfang erlebt hat, wird den Zauber dieses Anfangs mindestens bis zum dreißigsten Hochzeitstag und auch noch durch zweitausend Jahren Christentumsgeschichte bewahren wollen. Da liegt der Zauber von einst noch immer in der Luft. Man weiß im christlichen Leben um diesen Beginn.
Ob man später von diesen Corona-Zeiten Ähnliches berichten wird? Ich bin mir sicher, man wird viel von uns sprechen, nicht nur von den Ausbrüchen einer unbekannten und unbeherrschbaren Krankheit. Wichtiger wird sein: Wir alle haben etwas begriffen, etwas von dem, was ursprünglich richtig und wichtig für das Leben ist. Von Zusammenhalt und Sorge füreinander wird die Rede sein. Wir werden nicht mehr davon sprechen, was, wer, wie und wann sinnvollerweise oder in übertriebenen Maßen angeordnet hat. Wir werden von den Kindern und deren Bildung, von den starken Müttern und Väter sprechen, die Kinder betreuen und unterrichten, sprechen werden wir von den Alten, die allein waren und bleiben, und die einfach tapfer sind. Von unserem eigenen Verzicht werden wir erzählen, von den geplatzten Plänen und Träumen, von der erzwungenen Bescheidenheit, die es braucht. Dieses Wissen um Verzicht auf alles, was man selber durchsetzen will, trägt unsere Kirche seit Urzeiten mit sich. Es geht um eine neue Form des Teilens. Und man gab einem jeden, was er nötig hatte – das lernen wir gerade neu.
Die Gegenwart lebt von den Ursprüngen. Das liegt schon im Wort Religion, auf Deutsch heißt Religion, sich zurück zu erinnern. Ich erinnere mich, dass mich dieses Teilen, dieser Verzicht auf Eigentum, der von der ersten Gemeinde berichtet wird, schon in der Kinderbibel tief beeindruckt hat. Wenn das die Grundlage des Glaubens ist, dann würde dieser Glaube mich nicht mehr loslassen, das begleitet mich. Genauso wenig wie Jesus einen unbeeindruckt lassen kann, dessen Besitzlosigkeit, genauswenig wie – vor ihm – die Kargheit der Wüste, durch die das Volk Israel zog, genauso wenig, wie – noch früher - der Ruf an Abraham „geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will“. An diesen ersten Anfängen knüpft der Glaube immer neu an. „Weißt du noch?“, wir spüren, wie die Schmetterlinge, die ursprünglich sind, sie flattern immer wieder und weiter.
Trinitatis - 7. Juni 2020
Wochenpsalm: Psalm 113
Evangelium: Johannes 3,1–8(9–13)
Predigttext:
Der Herr redete mit Mose und sprach: Sage Aaron und seinen Söhnen und sprich: So sollt ihr sagen zu den Israeliten, wenn ihr sie segnet: Der Herr segne dich und behüte dich; der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der Herr hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden. So sollen sie meinen Namen auf die Israeliten legen, dass ich sie segne. 4. Mose 6,22–27
Predigt:
Wenige Minuten nach der Geburt wird ihr ihre Tochter ihr in den Arm gelegt. Auf einmal ist es mucksmäuschenstill. Kein Wort, kein Gerät, kein Piepen mehr, statt Herzschlag, metallisch aus dem Monitor, nur noch das leise, schnelle Atmen. Die Woge der Geburt verebbt. Nur noch leise: Mutter, Vater, Hebamme und sie, die Kleinste. „Maria“, sagte die Mutter leise, sie strahlte die Kleine an. Das noch schrumpelige Gesicht verzieht sich zu einem Lachen. „Maria“, sagte der Vater. Beide strahlen und das Kind, so sehen sie, lacht zurück.
Das Leuchten eines Antlitzes über unserem Leben kann man nicht hoch genug einschätzen. Allein die Vorstellung, dass jemand an unserem Lebensbeginn uns sein Gesicht zugewendet hat, zählt. Es geht um ein ursprünglich menschliches Bedürfnis, in ein Gesicht sehen zu dürfen. Das ist so selbstverständlich, dass man nur daran denkt, wenn es um den Segen und Gottes Angesicht geht. Man möchte wissen, wie das eigene Leben gemeint ist, möchte erfahren unter welchen Vorzeichen es steht.
Die Bibel weiß aus uralten Zeiten von dem erhobenen und leuchtenden Angesicht Gottes. Die Fruchtbarkeit der Äcker, der Wohlstand, der einem geschenkt wird, die nächste Saat und Ernte, liegt nicht nur in den Händen der Ackerbauern. Man ist von vielen unterschiedlichen Faktoren abhängig, man kann sie nicht zählen. Es braucht dieses: Gott möge sein Angesicht erheben, Gott möge selber leuchten über den Menschen und in ihnen und durch sie hindurch. Alles, so die uralte Überzeugung, braucht beides, menschliche Mühe und Gottes Segen. Sein Angesicht aber, das ist nicht ein Teil von ihm, sondern Gott erscheint durch sein Angesicht vollkommen und vollständig. Er, sein Wille, sein Name, sein Wesen, sein Herzschlag, das alles leuchtet in seinem Angesicht.
Gottes „Angesicht“ steht in den alttestamentlichen Überlieferungen für seine heilshafte Zuwendung. Umgekehrt gilt für deren Entzug: Verbirgt Gott sein Angesicht, wendet es ab, senkt es, bedeckt es, verhärtet es oder lässt finster werden, dann ist Zeit der großen Not. Eine Not, die sich kaum noch begrenzen lässt. Da helfen weder Quarantäne noch Impfungen. Es geht nur mit Zuwendung, ohne geht es nicht, da wäre Untergang. Zum Glück steht das Angesicht Gottes über unserem Leben.
Mit großen Smiley Gesichtern hat man bei Säuglingen experimentiert. Man hat festgestellt, dass dieses große Lächeln, sogar nur vom Bild, das man ihnen vorhält, den Kindern gut tut. Sie lesen, nehmen das Lächeln in sich auf. Die Kleinen würden, so das Ergebnis, messbar entspannen, wenn sie das Lächeln sehen. Und sie lächeln zurück. Und wir lächeln innerlich zurück, wenn wir von Gottes Segen und seinem Angesicht hören.
Es ist ein Segen, wenn ein Mensch mit einem Lächeln in das Leben treten darf. Denn das wirkt lebenslang bis in die Tiefe der Seele hinein. Und der Segen, den wir empfangen, wirkt tief, bis in den letzten Winkel hinein und entspannt einen. „Der Herr segne dich“, das ist das Lächeln Gottes für unser Leben, das steckt Menschen an. Der Segen setzt sich nicht nur an den Winkeln der Seele und in unseren Gesichtern fest, sondern er wird zur Lebenshaltung, dringt durch bis er in der Gesinnung und dann auch den Händen, den Taten ankommt. Segen wandert immer weiter, bis er in unsere Taten eindringt. Das Angesicht Gottes, viele erleben es durch die Menschen hindurch, die selber vom Glauben beflügelt sind und nicht nur einfach zusehen, was da so alles mit ihnen und um Sie herum passiert. Lächeln, das können auch die Hände.
In der vergangenen Woche haben wir gesehen, wie sich vieles zur Fratze verzerrt. Da liegt ein Mensch am Boden, bittet darum, dass er wenigstens atmen darf, man lässt ihn nicht. Atmen dürfen, das ist ja ein Grundrecht aller Menschen, wenigstens atmen…. Man würgt weiter. Ich sehe ein anderes Foto: das Gesicht eines Mannes mit einer Bibel in der Hand, er steht vor einer Kirche. Man fragt sich, was mag er gelesen haben in dieser Bibel? Er hält die Bibel hoch. Kein Lächeln, kein Wort, zu dem, worum es in diesem Buch eigentlich geht. Die Bibel erzählt vom Angesicht Gottes, auch dazu kein Wort, obwohl, da gibt es einiges zu sagen. Ich sehe die Pose und denke: Die Bibel ist kein Accessoire, das man einfach mal so in eine Kamera hält.
Wir aber lesen in ihr, „Der Herr behüte dich“, das ist ein Versprechen, das das Leben bis in die Tiefe hinein entspannt. Das ist nichts zum einfachen Hochhalten, sondern eine Geste Gottes, die für eine Haltung, für das Leben, steht, um dann weiter zu wirken. Segen ist wie ein erstes Lächeln, das man sieht, es formt alles, was zur Tat werden wird. Sogar die sind gesegnet, deren Leben bleischwer ist, auch das Leben derer, die Schuld tragen. Gesegnet sind die, die unten liegen, die um Luft ringen, die Schwachen, die Strauchelnden, Segen kennt weder Alter noch Hautfarbe. Es geht um Gottes Angesicht, das sich uns zuwendet. Vor dem Angesicht Gottes wechselt die Stimmung, manchmal schlagartig, manchmal nur ganz langsam, sie stellt um von bedrückt auf im Leben beglückt. Es ist eben wie ein Lächeln, das einen einfach ansteckt.
Pfingsten - 31. Mai 2020
Wochenpsalm: Psalm 118,24–29 - Evangelium: Johannes 16, 15–19(20–23a)23b–27
Epistel und Predigttext: Als der Pfingsttag gekommen war, waren sie alle beieinander an einem Ort. Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel wie von einem gewaltigen Sturm und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, zerteilt und wie von Feuer, und setzten sich auf einen jeden von ihnen, und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist und fingen an zu predigen in andern Sprachen, wie der Geist ihnen zu reden eingab. Es wohnten aber in Jerusalem Juden, die waren gottesfürchtige Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als nun dieses Brausen geschah, kam die Menge zusammen und wurde verstört, denn ein jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Sie entsetzten sich aber, verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, Galiläer? Wie hören wir sie denn ein jeder in seiner Muttersprache? Parther und Meder und Elamiter und die da wohnen in Mesopotamien, Judäa und Kappadozien, Pontus und der Provinz Asia, Phrygien und Pamphylien, Ägypten und der Gegend von Kyrene in Libyen und Römer, die bei uns wohnen, Juden und Proselyten, Kreter und Araber: Wir hören sie in unsern Sprachen die großen Taten Gottes verkünden. Sie entsetzten sich aber alle und waren ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden? Andere aber hatten ihren Spott und sprachen: Sie sind voll süßen Weins.
Da trat Petrus auf mit den Elf, erhob seine Stimme und redete zu ihnen: Ihr Juden, und alle, die ihr in Jerusalem wohnt, das sei euch kundgetan, vernehmt meine Worte! Denn diese sind nicht betrunken, wie ihr meint, ist es doch erst die dritte Stunde des Tages; sondern das ist's, was durch den Propheten Joel gesagt worden ist: »Und es soll geschehen in den letzten Tagen, spricht Gott, da will ich ausgießen von meinem Geist auf alles Fleisch; und eure Söhne und eure Töchter sollen weissagen, und eure Jünglinge sollen Gesichte sehen, und eure Alten sollen Träume haben; und auf meine Knechte und auf meine Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geist ausgießen, und sie sollen weissagen. Und ich will Wunder tun oben am Himmel und Zeichen unten auf Erden, Blut und Feuer und Rauchdampf; die Sonne soll in Finsternis verwandelt werden und der Mond in Blut, ehe der große und herrliche Tag des Herrn kommt. Und es soll geschehen: Wer den Namen des Herrn anrufen wird, der soll gerettet werden. Apostelgeschichte 2,1-21
Predigt: Liebe Gemeinde, da braust es, pfeift der Wind stürmisch um die Ecken, Staub wirbelt, die Vorhänge flattern wild in die Räume hinein, Fenster schlagen. Pause. Dann: Leise knistert es, Feuer flammt auf, wer hinhört, vernimmt es. Wie klingt Pfingsten? Gewaltig und leise, beides fast zugleich.
„…und sie wurden alle erfüllt von dem Heiligen Geist.“
Wie klingt Pfingsten? Erst pfeift der Wind wild um das Haus herum, dann flötet er unter der Tür hindurch. Und die, die wir Jesu Jüngerinnen und Jünger dort drinnen sitzen merken, wie die Luft, diese verbrauchte, abgestandene Luft, deren Sauerstoffgehalt bedenklich niedrig ist, verdrängt wird und frische, Sauerstoff gesättigte, kühle Pfingstluft in die Räume dringt. Und sie atmen Gottes Geist und sie spüren, wie neue, andere Gedanken, überhaupt erst möglich werden. Pfingsten ist wie ein großer Luftaustausch.
So kann man vom Geist Gottes auch in der Bibel lesen. Er brachte Gott ins Leben der Menschheit hinein, keinen fernen, keinen theoretischen Gott, über den man spekulieren kann, ob er nun Liebe oder Zorn sei. Heiliger Geist bringt mit Jesus die Nächstenliebe wieder auf. Er zeigt mit Jesus, denen, die nichts mehr sehen können, das Reich Gottes. Heiliger Geist tut das Nächstliegende, retten, bergen, helfen wie die Feuerwehr. In Sachen Furcht ist er der Experte, dem es gelingt Sauerstoff in die Gedanken zu bringen.
Wie klingt Pfingsten? Geist braust auf und als sie in Jerusalem beginnen, alle durcheinanderzureden und ihre Stimmen sich aufgeregt vermischen, da weicht diese Enge von ihnen. Seit Wochen verharren sie darin, in dieser Furcht, die auf wenigen Quadratmetern zuhause ist. Sie kannten nur noch sich selber, hatten sich auf sich und ihre drei bis vier Lieblingsgedanken zurückgezogen. Merkten nicht mehr, dass da auch andere sind.
An diesem Punkt sind wir alle. Wo immer wir auch leben, hier in Ahlbeck, Berlin, Bochum, Paris und Tokio saßen und sitzen wir fest. Da sind Beruf und Freizeit, die Schule und der Kindergarten auf den Quadratmetern der eigenen Wohnung zusammengezurrt. Alles ist an einem Platz und all diese Menschen, die Familie sind, sind zugleich Vater, Mutter, Erzieherinnen und Erzieher, Lehrerin und Lehrer, Tröster, Seelenarzt und Hoffnungsmacher in einer Person. Wir erleben Enge, Angst und auch unsere Ungeduld und Überforderung. Das ging und geht überall den Menschen so: Asien, Afrika, Frankreich, Spanien…. Viele sind heftiger betroffen als wir.
Und dann kommt Pfingsten 2020 und der Geist Gottes pfeift um die Häuser. „Ich liebe das Leben“, schrieb jemand in den nassen Sand am Strand. Und dann kommen wir mit unseren blassen Gesichtern und unseren ungeschickten Corona-Frisuren wieder an die Luft, an die See, an den Strand. Die Kinder bauen Sandburgen, die Erwachsenen helfen und ich habe am Freitag viele glückliche Gesichter gesehen. Und trotz der Kühle liefen sie barfuß. Pfingsten heißt: Wir wollen diese Angst nun auch überwunden wissen. Brauchen Geist in die Köpfe und Herzen. Und es gab tatsächlich ein gewaltiges Brausen.
Wie klingt Pfingsten? Wie ein Brausen, das um die Ecke zieht, diese Stimmen, Frauen und Männer, die Kinder und die Jugendlichen, die alle so unendlich viel zu erzählen haben. Von ihrer Angst, von dem Sterben, von dem Gesundwerden. Die Ärztinnen und der Lehrer, der Erzieher und die Polizistin, der Vater, die Mutter, alle haben etwas zu berichten, was ihnen widerfahren ist. Und dabei reden sie alle von den großen Taten Gottes. Viel von Bewahrung, es gibt viel mehr Hinwendung, als wir vorher je ahnten, Rettung in Not, Hoffnung, auch da, wo niemand mehr hoffen will, Gebete füreinander, wo die Welt keine Worte mehr findet. Die großen Taten Gottes, die in den Monaten seit März immer dabei sind, preisen, das ist die Muttersprache, die wir verstehen können. Selbst wenn die Gefahren bleiben, über all das, was uns auch hilft, die Geduld unserer Kinder, die Fürsorge unserer Eltern, die Vorsicht und behutsame Art der anderen zu sprechen, das ist der frische Sauerstoff von Pfingsten.
In Jerusalem saßen sie in einem Raum, atmeten nur noch flach vor lauter Angst und Sorge, ihr Leben und ihr Glaube leide an Luftnot. Prinzip des Heiligen Geistes heißt, Luftaustausch: Furcht weg, kühler Mut hinein, ansteckende Aerosole rauslüften, gesunde Frischluft rein lassen.
Dieses Brausen geht durch das Fest. Und der Staub, der hochgewirbelte, senkt sich, die Vorhänge hängen still, sie spüren die Kühle des Windes noch auf der Haut. Das Brausen schweigt.
Wie klingt Pfingsten? Dann dieses , leise Knistern des Feuers, kaum ist es zu vernehmen, prasselt vor sich hin. Nach der Kühle des Windes, die Wärme eine Flamme, die all dieses Alte verzehrt und den Glauben durchwärmt. Amen – es folgt das Glaubensbekenntnis.
Exaudi – Herr höre meine Stimme, wenn ich rufe! - 24. Mai 2020
Wochenpsalm: Psalm 27,1.7–14- Evangelium: Johannes 16,5–15-
Predigttext: Jeremia 31,31-34
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, mein Bund, den sie gebrochen haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der Herr; sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der Herr: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein. Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den Herrn«, denn sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der Herr; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
Predigt: Liebe Gemeinde,
„für irgendetwas muss diese Zeit doch gut sein“, meint eine ältere Frau aus unserer Gemeinde. „Ich weiß nur nicht, wozu“, sagt sie, und fügt an „noch nicht“. Mir geht es auch so. Irgendwie suche ich nach einem Sinn, der sich an der Oberfläche jetzt nicht erkennen lässt. Vielleicht muss ja auch nicht alles einen Sinn ergeben. Es ist wie eine Heimsuchung, also wie eine Prüfung unseres Glaubens, unseres Zusammenhalts, unseres Respekts vor den anderen Menschen und dem Leben. Ich habe die Gräber in New York und die Not in Brasilien vor Augen.
„Für irgendetwas muss diese Zeit doch gut sein“, - ich denke, diese Frage ist eine Bitte um Geduld. Es muss nicht auf alles und jedes eine Antwort geben, als würden wir „Wer wird Millionär“ spielen und Kreuze setzen müssen: A, B, C oder D. Geduld lernen, das ist angesagt.
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr.
Das ist im Glauben angelegt. Ein Ziel ist Geduld. Israel: 40 Jahre Wanderung durch die Wüste. Eine Generation brach auf, die nächste erst kam an. Die einen sahen das gelobte Land von ferne, die anderen erst nahmen es in Besitz. Warten, Geduld haben, ist seit je her nötig. Warten aber ist aktiv und kostet, verlangt vielen von uns unendlich viel Kraft ab.
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr.
„Wie war es im März bei euch?“ fragt jemand am Telefon. Ich erzähle von dieser plötzlichen Stille als auch die letzten Gäste abgereist waren. Der Strand war leer. Mitten im Ort suchte sich ein Biber seelenruhig seinen Weg über Straßen und durch die Gärten. Wir warteten, sahen auf die Zahlen im Fernsehen, sorgten für eine Art neuen Alltag. Diese Wochen waren so anders als alle anderen Wochen, die ich hier und überhaupt in meinem Berufsleben erlebt habe. Es brauchte und es braucht viel mehr Geduld als man aufbringen kann. Geduld zehrt an einem. Ein Schüler, der sonst ohne Mühe sieben Schulstunden mit all den unterschiedlichen Fächern durchlernen kann, fällt heute nach zwei Stunden vor dem Computer, auf dem der Zoom-Unterricht läuft, müde aufs Sofa, schläft tief erschöpft ein. Das Virtuelle, diese Konzentration auf den kleinen Bildschirm, ist deutlich anstrengender als man es ahnt.
Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, da will ich … einen neuen Bund schließen, nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss.
„Für irgendetwas muss diese Zeit doch gut sein“, - immer dann, wenn nach solchen größeren Zusammenhängen gefragt wird, höre ich, wie im Glauben eine Verheißung mitklingen will. Gerade auf den Wüstenwanderungen, die man ja auch persönlich zurücklegen muss, gibt es diesen Proviant. Stärkung der Geduld. Wenn man – wie Israel – in ein Exil geschickt worden ist, dann formt sich der Glaube an den einen Gott neu.
Und im Hintergrund entfaltet ein Wissen aus alten Tagen neue Kräfte: Gott hat sein Volk Israel, hat uns zu keiner Phase allein gelassen. Selbst Taktieren und ein schludriges Verschlampen der Zusage Gottes, seines Bundes, hat nicht für Untergang gesorgt. Der Prophet ergriff das Wort und begann wieder zu sprechen, ruhig, mit vertrauten Worten tritt er aus dem Unheil heraus und setzt neue Ziele. Gott verheißt Neues und rechnet nicht unablässig mit dem Alten ab. Gott schafft, auch ohne, dass wir etwas geleistet haben, beständig eine Zukunft auf den Plan. Und im Buch des Propheten Jeremia, der wirklich hart zu Gericht geht und mit Drohungen nicht spart, klingen urplötzlich Verse auf, die vom Neuen Bund sprechen.
Im März haben wir gesungen: „Der Mond ist aufgegangen, die goldenen Sternlein prangen.“ Viele fühlten sich einsam und suchten Zuflucht in den vertrauten Versen und Gebeten. Und dann kam die Strophe:
„Gott, lass dein Heil uns schauen,
auf nichts Vergänglichs trauen,
nicht Eitelkeit uns freun;
lass uns einfältig werden
und vor dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein.“
Und wir spürten, dass in solchen einfachen und klaren Worten das Herz höherschlug. Da ist etwas, das uns über all die Ungeduld und dieses Ungewisse – wenigstens für kurze Zeit – hinwegheben kann. Gottes neuer Bund bedient sich vertrauter Worte. Und er schreibt eine Erwartung ins Herz. Soviel kann schon reichen für die nächsten Schritte. Und wenn ein Schüler erschöpft ist von dieser merkwürdigen Zeit, dann wird er gestärkt erwachen.
„Alles wird gut“, sagte jemand. Es wird nicht alles gut, für die Kranken, für die Sterbenden klingt das sogar zynisch, auch für uns und jetzt wird nicht alles gut. Aber in der Geduld, die wir aufbringen müssen, in der Hoffnung, die wir haben, macht sich etwas noch Neues, Unbekanntes breit, etwas, das das Herz bewegt, wir lernen das gerade neu kennen. Es ist der einfache Glaube, dass Gott uns nicht fallen lässt.
Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein, und ich will ihr Gott sein.
„Für irgendetwas muss das alles doch gut sein“, meinte die ältere Frau. Wir wissen es nicht so genau. Aber wir warten auf Pfingsten. Geduld üben wir seit März, durch dunkle Tage hindurch, durch die Einsamkeit, die wir alle erleben, hindurch meldet der Prophet sich mit Gottes Wort zurück:
… sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der Herr; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
Ja, für irgendetwas ist das alles gut. Amen – es folgt das Glaubensbekenntnis.
Himmelfahrt, 21. Mai 2020
Wochenpsalm: Psalm 47,2–10 - Evangelium: Lukas 24,(44–49)50–53-
Predigttext: Johannes 17,20–26
Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, dass sie alle eins seien. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, auf dass die Welt glaube, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, auf dass sie eins seien, wie wir eins sind, ich in ihnen und du in mir, auf dass sie vollkommen eins seien und die Welt erkenne, dass du mich gesandt hast und sie liebst, wie du mich liebst. Vater, ich will, dass, wo ich bin, auch die bei mir seien, die du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit sehen, die du mir gegeben hast; denn du hast mich geliebt, ehe die Welt gegründet war. Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich, und diese haben erkannt, dass du mich gesandt hast. Und ich habe ihnen deinen Namen kundgetan und werde ihn kundtun, damit die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen.
Liebe Gemeinde,
Als ich Kind war, standen von den Stoßstangen der großen Lastwagen helle Stäbe mit weißen Kugeln auf der Spitzen ab. Wenn der Dieselmotor startete, dann wackelte die gefährlich hin und her. „Wozu braucht man die“, fragte ich meinen Vater. „Die zeigen dem Fahrer oben, wo der Wagen zu Ende ist. Ohne die, gibt es Beulen beim Rangieren. Wenn die genau hinsehen, können sie dicht daran fahren“, sagte er. Und dann sah ich diese Stäbe mit den weißen Kugeln überall. Aus Spaß fuhren die damit auch an den an den kleinsten Autos, „hey, ich bin auch ein Großer!“
„Peilstab“, ist der Fachbegriff. Ganz vergessen ist dieses heftige Hin- und Herschwingen der weißen Kugel. Aber die Sache mit dem „Ende“, und dem „ganz dicht dran“ die ist nicht vorbei. Es braucht einen Peilstab, um ganz dicht dran zu kommen, abzuladen, direkt ins Lager von der Rampe. Gerade am Himmelfahrtstag, an dem diese Erde endlich und der Himmel ewig ist und man leicht mal eine Beule in die Erde hineinfahren könnte, braucht man allen Spielraum. Auch den ganz kleinen Spielraum. Denn, wenn sich der Himmel hier schon mal anmeldet, dann möchte man dicht an ihn herankommen. Oftmals ist der Abstand geringer als ein Blatt Papier dick ist.
Als Christus den Himmel für uns herbeiholte, wurde der Spielraum begrenzt für die Erde. Jesus machte den Himmel zum Erlebnis, er sorgte für eine ungewöhnlich Nähe zwischen Gott und Mensch. Und irgendwann ist der Abstand nicht mehr mit bloßem Auge zu sehen. Dafür steht das Johannesevangelium. Johannes wählt dafür das Wort „Liebe“. Jesus sagt: „Dass du sie liebst, wie ich sie liebe“ und bittet in seinem Hohepriesterlichen Gebet, dass „die Liebe, mit der du mich liebst, in ihnen sei und ich in ihnen“. Dichter als durch diese Liebe kommt man nicht an den Himmel heran.
Liebe: Ein Notarzt erzählt von einem nächtlichen Einsatz. Er wird zu einer alten Frau gerufen. Atemnot. Als er kommt, sitzt sie aufrecht im Bett. Sie atmet schnell. Sie habe Lungenkrebs. Der werde behandelt. Die Behandlung schlage an. Nun hätte sie geträumt, „einen furchtbaren Albtraum“, in diesem Traum habe sie nicht mehr atmen können. Sie habe Angst vor dem nächsten Traum, fände keine Ruhe. Der Notarzt sagt, dass er da ein Rezept habe. Er geht in die Küche, er nimmt die Milch aus dem Kühlschrank, macht ein Glas Milch warm, tut Honig hinein, bringt es der alten Dame. „Damit schlafen sie gut“, sagt er, er weiß, das war eigentlich nicht seine Aufgabe und verlässt leise die Wohnung.
Im Johannesevangelium hören wir, wie Jesus an dieser Stelle zwischen Erde und Himmel betet. „Und ich habe ihnen die Herrlichkeit gegeben, die du mir gegeben hast, auf dass sie eins seien, wie wir eins sind“. Und setzt einen Berührungspunkt, ohne dabei einen Blechschaden zu verursachen, aber er schafft Raum. „Auf dass sie eins werden“, dichter geht es nicht.
Himmel dicht bei: Für die Armen, die Reichen, die Hungernden, die Kranken, die Sterbenden, die Liebenden, die Kinder, die Alten. Das ist der Punkt, auf den ich peile, an dem die Leute nicht einfach hinten runterfallen, weil sie eben arm, alt, mit Risiko belastet sind. „Du brauchst Peilung“, sagten wir als Jugendliche.
Der Glaube, unser Leben ist so etwas wie ein Peilstab. Oben drauf, gut sichtbar eine weiße Kugel, der Glaube ist der Spielraum zwischen Christus im Himmel und uns in dieser Erdenzeit. Es setzt den Peilpunkt zwischen Himmel und Erde.
Heute piept es im Auto aus dem Bordcomputer. „Aufpassen“, weckt die Aufmerksamkeit: Achtung, da ist noch Spielraum, wenig, aber du rangierst dein Leben ganz dicht an den Himmel heran. Und wenn man dann genau hinsieht, dann ist da immer noch etwas Platz, um dichter dran zu kommen.
Das ist, was nicht nur ich seit Wochen noch einmal neu auslote. Spielraum für die Liebe: Wenn ich eine Maske über Mund und Nase trage, dann schütze ich nicht mich, sondern ich schütze die anderen. Es fühlt sich so an, als wäre es meine Maske, aber ich trage sie zum Schutz für die anderen, die mich überrascht ansehen. Vieles ist plötzlich umgekehrt. Daran will ich mich gewöhnen, dass da immer noch etwas Platz ist für Liebe und Einssein mit Christus und kein Blechschaden entsteht.
Himmelfahrtstag setzt einen Peilstab an diesen Punkt, markiert den Spielraum zwischen Erde und Himmel. Wer den anpeilt, verhindert Blechschaden und lotet den Glauben aus.
Rogate – betet! – Sonntag 10. Mai 2020
Wochenpsalm: Psalm 95 - Evangelium: Lukas 11,(1-4)5-13 - Predigttext: Matthäus 6,5-15
Jesus Christus spricht: Wenn ihr betet, sollt ihr nicht sein wie die Heuchler, die gern in den Synagogen und an den Straßenecken stehen und beten, um sich vor den Leuten zu zeigen. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn schon gehabt. Wenn du aber betest, so geh in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu und bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist; und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir's vergelten. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden; denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum sollt ihr ihnen nicht gleichen. Denn euer Vater weiß, was ihr bedürft, bevor ihr ihn bittet. Darum sollt ihr so beten: Unser Vater im Himmel! Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. [Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.] Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.
Predigt: Liebe Gemeinde, Archäologen entdeckten vor einigen Jahren das Fundament eines Hauses. Die Fundstelle liegt am See Genezareth. Es könnte sich – so wurde sofort spekuliert – um das Haus des Petrus handeln. Auf Abbildungen sieht man Fundamente. Keine Räume, oftmals nur eine Art Keller. In diesen Häusern gab es nur einen abschließbaren Raum, der durch eine Tür von allen Räumen abgetrennt war: Die Speisekammer. Wo immer Archäologen Tonkrüge und Reste alter Behälter finden, vermuten sie die Speisekammer. Genau das wäre, folgt man dem Evangelium und nimmt man den ursprünglichen Wortlaut ernst, das berühmte „Kämmerlein“, dessen Tür ist zu schließen, um dort zu beten.
Und ich sehe mich hocken, auf dem Getränkekasten, zwischen Reis und Nudeln, die letzten Kartoffeln duften erdig und einige Gläser Tomatensoße und Marmelade sind noch da, die kühlen Wände riechen feucht. Die Vorräte beruhigen ungemein, es wird noch einige Zeit reichen. Ich habe die lange Galerie der „Weckgläser“ meiner Großmutter vor Augen, ihre Kartoffelkiste, aus der weiße Keime ans Licht dringen, und der Schinken am Haken unter der Decke baumeln, von dem sie sonntags etwas abschnitt. Das waren die Schätze, die Großvater und sie bewahrten, für schlechte Zeiten und die guten Zeiten sowieso.
Hier bete ich, hinter verschlossener Tür, mitten in den Vorräten, um das tägliche Brot und so viel anderes. Es ist, als könnte man aus der Vorratskammer auch andere, als die alt bekannten Vorräte hervorholen, die heißen: Dank, Vergebung, Heiligung. Vorräte, die ein Leben erinnern, das nicht nur einen Magen kennt. Ausgerechnet in der Vorratskammer kommt der ganze Lebensvorrat in den Blick. Es ist ein Ort, an dem leibliches Wohl und seelisches Wohl eng verbunden werden. Denn der Vater ist im Verborgenen, sieht in das Verborgene und wird dir’s hier, im Verborgenen vergelten.
Im Konfirmandenunterricht sollten wir auswendig lernen: Das Vaterunser, die 10 Gebote, Psalm 23, das Glaubensbekenntnis, alles damals Übliche. Und dann Paul Gerhards Lied „O Haupt voll Blut und Wunden“. Das ganze Lied! Wir handelten unseren Pastor herunter. Jede und jeder von uns musste nur eine Strophe lernen. Und ich lernte „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir, wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür; wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein.“ Ich musste aufstehen, ratterte den Text in der Prüfung herunter. Plumps saß ich wieder. Das war peinlich. Aber da war noch ein Vers in der Vorratskammer gelandet, es ist mir mit im Sinn. Da hält ein anderer, Jesus, sein Leben für mich hin. Das ist der Anfang des Glaubens, wenn da im Verborgenen so ein Schatz bevorratet wird.
Das Vaterunser hat Jesus selber zum Lebensvorrat gemacht. „Was wissen wir genau von Jesus?“, fragt eine Konfirmandin, es ging um Daten, Fakten, Echtes. „Es gibt Originalton mit Jesu Stimme“, antworteten wir, „das Vaterunser ist ein echter O-Töne Jesu.“ Es ist, als würde man ihm hier in persönlich begegnen. In tausende Sprachen ist es übersetzt. Heute beten sie es in Afrika und bitten um Brot und meinen mit Brot frisches Wasser. Und sie beten es in Syrien, sagen Brot und meinen Frieden. Und die Mutter betet für ihr Kind: Und die Kinder für ihre Eltern. Und immer, wenn jemand zu diesem Lebensvorrat greift, liegen die passenden Worte schon bereit. Man muss nicht suchen, man muss nicht immer neu darum ringen, um so ein „wie bringe ich es vor Gott?“ Jesu Worte sind präzise, sparsam und spannen den Lebensbogen weiter als ich sehen kann. Tag für Tag gehen diese Worte Jesu rund um die Welt in vermutlich allen Sprachen werden sie gebetet: Vater Unser; Our Father, pater hymon. Das Vaterunser ist knapp, nimmt mit wenig Worten die ganze Welt in den Blick.
Wenn das Herz schwer und der Kopf durcheinander ist, geht es in das Kämmerlein, Jesus legt sein Gebet bereit. Schlüssel ins Schloss stecken, öffnen, hinter mir zuzumachen nicht vergessen. Allein sein, tief durchatmen, sich seiner geistlichen Schätze versichern. Wir wissen, dass Viele von uns in diesen Wochen vor allem von solchen Vorräten zehren. Die, die sich – das können wir alle gut verstehen – noch nicht wieder zur Kirche trauen, die, die zu Recht besonders vorsichtig sind, zehren mit uns allen von verborgenen Schätzen.
Dann geht es wieder hinaus aus dem Kämmerlein, Tür aufschließen, nicht vergessen, das Licht da unten zu löschen. Treppe hoch gehen, wieder im Alltag ankommen. Es ist doch kaum zu verstehen, dass Gott in dieses Verborgene sieht und in ihm selber ist. Der Geruch der Kartoffeln hängt noch länger in der Nase, die Nudeln und der Reis beruhigen einen, wenn man nur daran denkt: Es ist noch etwas da. Und dann ist da auch das Beten an diesem Ort bewahrt: Im Verborgenen, bei dem Gott, der selbst im Verborgenen ist. Offenbar sorgt Gott für solchen Vorrat, von dem wir beständig zehren. Amen. (es folgt das Glaubensbekenntnis.)
Kantate – singet! – Sonntag 10. Mai 2020
Wochenpsalm: Psalm 98 - Evangelium: Lukas 19,37-40 - Predigttext: 2. Chronik 5,2–5+12–14
Predigt: Liebe Gemeinde,
es gibt Rätsel, die sind wie eine Nuss, die muss man knacken. Dazu braucht es Grips, Augenmaß, Wissen und Kraft. Kreuzworträtsel, irgendwann hat man es raus. Sudoku, man kann es lösen. Viele Rätsel hat die Wissenschaft entschlüsselt.
Es gibt Geheimnisse, die entziehen sich dem Zugriff. Es wäre müßig, Geheimnisse enträtseln zu wollen. Wer wollte die Liebe entschlüsseln, oder dieses Band, das uns mit unserer Mutter verbindet, beschreiben. Das bleibt alles geheimnisvoll. Ein Geheimnis zu wahren, ist eine kostbares Gut. Vor allem unser Glaube bleibt - im ursprünglichen Wortsinn – voller Geheimnisse. Davon spricht der heutige Predigttext:
Da versammelte Salomo alle Ältesten Israels, alle Häupter der Stämme und die Fürsten der Sippen Israels in Jerusalem, damit sie die Lade des Bundes des Herrn hinaufbrächten aus der Stadt Davids, das ist Zion. Und es versammelten sich beim König alle Männer Israels zum Fest, das im siebenten Monat ist. Und es kamen alle Ältesten Israels, und die Leviten hoben die Lade auf und brachten sie hinauf samt der Stiftshütte und allem heiligen Gerät, das in der Stiftshütte war; es brachten sie hinauf die Priester und Leviten.
Und alle Leviten, die Sänger waren, nämlich Asaf, Heman und Jedutun und ihre Söhne und Brüder, angetan mit feiner Leinwand, standen östlich vom Altar mit Zimbeln, Psaltern und Harfen und bei ihnen hundertzwanzig Priester, die mit Trompeten bliesen. Und es war, als wäre es einer, der trompetete und sänge, als hörte man eine Stimme loben und danken dem Herrn. Und als sich die Stimme der Trompeten, Zimbeln und Saitenspiele erhob und man den Herrn lobte: »Er ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewig«, da wurde das Haus erfüllt mit einer Wolke, als das Haus des Herrn, sodass die Priester nicht zum Dienst hinzutreten konnten wegen der Wolke; denn die Herrlichkeit des Herrn erfüllte das Haus Gottes. (2. Chronik 5,2–5+12–14)
Und wir sitzen jetzt draußen, vor unserer Kirche. Das ist schon mehr als wir bisher hatten, bis vor einer Woche saßen wir Zuhause. Wir warten, dass wir wieder hineinkönnen in unsere Kirchen. Wir warten seit acht Wochen. Sieben Jahre mussten sie in Jerusalem warten, bis Salomos Tempel eingeweiht wurde. Sieben lange Jahre…., die Zeit zog sich. Wie so oft: Warten auf Frieden, warten auf Freiheit, hoffen auf ein besseres Morgen, wenigstens für die Kinder, das kennen wir. Und dieses Warten-Müssen ist in den Glauben – das muss ich ungeduldiger Mensch mir klar machen –eingewoben. Alle leben mit der noch nicht erfüllten Sehnsucht nach einem Mehr. Wir leben mit dem Warten auf Gottes Reich.
Es liegt heute etwas vom Advent in der Luft. Warten auf andere Zeiten, auf bessere Zeiten. Das ist nicht einfach ein Herumsitzen, sondern vom Hoffen und Beten und Bekennen, erfüllte Zeit. Und wir wissen genau, wie es drinnen, in unserer Kirche, aussieht, wie es riecht, wie die Blumen und Kerzen auf dem Altar stehen. Wir wissen auch viel vom Reich Gottes. Dieses Warten führt an dieses Geheimnis heran, dass der Glaube für uns bereithält. Warten ist voller Hoffnung. Und es war Jesus, der uns die Wartezeit angefüllt hat: Mit Rücksicht, mit Nächstenliebe, mit der Sorge für die Schwachen, zur Pflege des kostbaren Friedens, zur Bewahrung unserer Schöpfung.
II.
Dann geht es hinein in den Tempel. Die Tore bewegen sich, schwingen in beide Richtungen auseinander. Es ist alles prächtig. Die Bundeslade, die Stiftshütte, alles, was von Gottes Nähe zeugt, wird vorangetragen. Die Leviten, die Priester folgen, dazu Musik und Gesang: „Er ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewig“. Das ist die Grundmelodie, ein jüdisch-christliches Grundgeheimnis. „Gütig und barmherzig“ viel mehr gibt es von Gott nicht zu sagen. Eigentlich, dass es anders sein könnte und auch anders erlebt wird, das steht jetzt, als alle singen und beten, nicht zur Debatte.
Dass Gott sich auch zurückziehen kann, sich sogar abwenden könnte, das wissen wir alle. Es gibt den Moment, in dem man sich von Gott verlassen fühlt. Wenn wir dann denken, er zeige uns die kalte Schulter, dann ist es immerhin noch Gottes kalte Schulter. Martin Luther unterschied den offenbaren Gott und den verborgenen Gott. Das hatte er in Jesus am Kreuz und in der Verzweiflung erkannt. Aber auch da, der verbogene Gott ist, ist immer noch Gott. Ganz verlassen, das kannte Luther nur als letzte und tiefste Angst, aber nicht im Glauben. Und wir auch nicht, sonst säßen wir nicht hier.
III.
Jetzt aber: Die lange Wartezeit ist vergessen. Das ist das Geheimnis des Glaubens, in all diesem Warten, Harren, Verzweifeln, Suchen, geschieht etwas, das dem Glauben dient. Seit Jesu Auferstehung wartet der Kosmos auf Erlösung. Man kann das Heute manchmal nur ertragen, weil da eine Vorstellung ist, von dem, was kommen wird. Beispiel: Ein alter Mann erklärte, er habe im Krieg vor 75 Jahren nur überleben können, weil er wusste, das es wieder Frieden geben werde. Und als im Mai 45 die Waffen schwiegen, konnte er seinen Ohren nicht trauen, so still war es und in dieser Stille war das Geheimnis des Friedens für ihn aufbewahrt. Beispiel zum Muttertag: Eine Mutter sagte, sie habe alle Schmerzen unter der Geburt nur ertragen, weil sie an ihr Kind dachte.
Es dürfte niemanden überrascht haben, dass dann eine Wolke den Tempel erfüllte. So war Gott mit seinem Volk durch die Wüste gezogen: In einer Wolke. Als wollte er sich in seinem Geheimnis gut verhüllen. Und die Herrlichkeit Gottes war in dieser Wolke so stark, dass viele Menschen das Betreten der Tempelruine in Jerusalem bis heute vermeiden. Die Herrlichkeit Gottes verträgt keine Fußtritte, denken sie, denken wir. Herrlichkeit Gottes: Das ist kein Rätsel, das man mit wenigen Worten löse, oder wie eine Nuss knacken kann. Es bleibt geheimnisvoll. Und doch schwebt dieser Gesang über allem. „Er ist gütig, und seine Barmherzigkeit währt ewig“, das verstummt nicht. Es ist eben kein Rätsel, das sich lösen ließe, sondern ein Geheimnis, das immer wertvoller wird. Darin liegt das Geheimnis Gottes, in seiner Barmherzigkeit. Die Priester stocken, die Leviten gehen nicht weiter, aber das Singen verstummt nicht. Bis heute nicht, und dann wird es zum Bekenntnis, das wir alle sprechen. (es folgt das Glaubensbekenntnis.)
Fürbitte:
Herr, du bist gütig, und deine Barmherzigkeit währt ewig, so beten wir zu dir: behüte alle Mütter und auch die Väter, dass sie ihre Kinder mit Geduld, voller Dank und Ehrfurcht erziehen.
Herr, erbarme dich.
Herr, du bist gütig, und deine Barmherzigkeit währt ewig, so beten wir zu dir: lege Frieden in die Herzen von uns Menschen, hier, in Idlib, in Syrien und im Jemen, dass Frieden werde.
Herr, erbarme dich.
Herr, du bist gütig, und deine Barmherzigkeit währt ewig, so beten wir zu dir: Für unsere Landwirtschaft, bewahre die Saat und die keimenden Pflanzen zur Ernte.
Gott, erbarme dich.
Herr, du bist gütig, und deine Barmherzigkeit währt ewig, so beten wir zu dir: Für die Infizierten und all die Kranken, hilf ihnen auf dem Weg zur Genesung.
Gott, erbarme dich.
Herr, du bist gütig, und deine Barmherzigkeit währt ewig, so beten wir zu dir: für uns alle, die wir unsere Rücksicht üben und das Warten, stärke uns in der Geduld.
Herr, erbarme dich.
Jubilate – Sonntag 3. Mai 2020
Kyrie-Gebet:
Wir staunen über die Pracht dieses Frühlings, das tiefe Gelb auf den Rapsfeldern, das Summen der Bienen, das Wachsen des Getreides. Doch wir wissen, deine Schöpfung will bewahrt werden, die Erde, das Wasser, die Luft klagen ihr Leid. Darum bitten wir: Herr, erbarme dich, bleibe unser Schöpfer.
Wir lieben die Menschen, die uns umgeben. Doch wir erschrecken, es ist so viel Leid, das in dieser Welt regiert, Wunden stehen offen und warten auf Heilung. Jeder Schrei, jede Träne, jedes Verstummen beklagt das Leid. Darum bitten wir: Christus, erbarme dich, sei unser Versöhner.
Wir wissen um die Gemeinschaft, die uns trägt. Doch wir sehen, manches ist rissig, gibt sich unversöhnlich, bleibt bei sich, verfehlt den anderen. Jedes Zerwürfnis, jeder Streit, jedes Geschrei klagt über solches Leid. Darum bitten wir, Heiliger Geist, erbarme dich, sei unser Erlöser. Amen.
Du Gott bist ein Gott des Jubels, du bist ein Gott der Stärke. Gib uns davon, jetzt, in dieser Stunde und in aller Zeit. Amen
Wochenpsalm: Psalm 66,1-9
Evangelium und Predigttext:
Christus spricht: Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg; und eine jede, die Frucht bringt, reinigt er, dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht an mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt die Reben und wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen. Wenn ihr in mir bleibt und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren. Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger. Johannes 15,1-8
Predigt:
Liebe Gemeinde, die Ameise gilt als das stärkste Tier. Sie kann ein Vielfaches ihres eigenen Körpergewichtes tragen. Der Weinstock gilt als eine der stärksten Pflanzen. Wie ein kleines Wasserwerk zieht er mit seinen verzweigten Wurzeln sein Wasser aus über 20 Metern. Er tut das mit solcher Kraft, dass ein fehlerhaft beschnittener Stock wie ein Wasserhahn Tag und Nacht tropft. Wein kann aus der falsch gesetzten Schnittwunde heraus sogar verbluten.
Im Mai ist der Schnitt vorbei, die vielen kleinen Haufen Totholz, die am Rande des Weinberges lagen, sind schon lange verbrannt. Im Mai grünt der Weinstock, er schlägt aus, setzt Kraft frei. Dieses „Wasserwerk Gottes“ befördert mit hohem Druck aus der Tiefe, es versorgt die jungen Sprossen am Fruchtholz mit Wasser, Mineralien, Spurenelementen. Oberflächenwasser hilft im Weinberg nur kurzfristig, die tief gelegenen Speicher dienen dem Wachstum und geben der Traube Aroma.
So ist das auch mit uns. In einem vergleichbaren Sinn ziehen wir unsere Lebenskraft aus einer, den Blicken verborgenen, unter der sichtbaren Oberfläche gelegenen Quelle. Fein verzweigt ist das Wurzelwerk, auf dem der Glaube wächst, angereichert mit Worten, Trost, Weisung aus der Bibel. Kraftvoll ist dieses Wurzelwerk, aus dem Glaube wächst. Das haben viele von uns eindrucksvoll erlebt, gerade auch in den vergangenen Wochen.
Da sind die Kinder, zuerst die Kinder. Plötzlich hatten sie – so anders als sonst – tatsächlich Sehnsucht nach der Schule. Wer hätte das gedacht? … Wir haben alle gemerkt wie wichtig das ist: Schule, Unterricht, Freundschaften, spielen können, Pausen, die Lehrerinnen und Lehrer. Dass wir etwas lernen dürfen, ist für uns alle, auch die Erwachsenen, ein Kraftwerk zum Überleben. Lernen ist nie zu Ende. Und plötzlich war das für euch Kinder vorbei. Und dann blieb auch noch jede und jeder für sich allein. Wohl denen, die jetzt Geschwister haben. Aber die Wurzel, die „Vertrauen“ heißt und „Rücksicht“ und „Acht geben auf andere“ treibt seit Wochen erste Früchte.
Die Junge Gemeinde bietet den Alten Hilfe an. Und die Alten brauchen diese Hilfe aber nicht, weil ihre Familien und die Nachbarschaft sich offensichtlich kümmern. Und im Briefkasten am Pfarrhaus lag Material für Masken. Und wir bringen das Material zu den Frauen, die nähen. Jede Hilfsbereitschaft, jede Rücksicht zieht ihre Nahrung aus dem Gebot der Nächstenliebe. Jesus ist die Kraftader. Und dieser wilde Spross „alles muss genau so sein, wie ich es haben will“, dieses „alles muss wieder so werden, wie es mal war“ ist verdorrt und abgestorben. In aller Unsicherheit habt Ihr Kinder und die Jungen hoffentlich eine Kraft gespürt, die in euch beständig wächst.
Da sind wir, die Erwachsenen, plötzlich ohne all das, was dem Leben Halt gibt. Beruf, dieses Selbstverständliche, die Begegnung draußen, die Sicherheit in der Nähe, dieses tiefe Vertrauen, dass einem nichts passieren kann, alles passte nicht mehr zusammen. Einige, wir kennen sie auch, stehen ohne Einnahmen da. Manche wachen morgens auf und denken, das wäre nur ein schlechter Traum gewesen. Und die Enkel winken noch immer vor dem Fenster. Ich sitze bei den Älteren aus unserer Gemeinde im Garten. Und dann beten wir, oft. Und einmal beten wir das Vaterunser und unsere Stimmen werden so kräftig, dass ein lautes „Amen“ über die Hecke der Nachbarn kommt. Das klang einvernehmlich. In unserem Glauben wächst Trost. Der wird aus einer Tiefe gespeist, die niemand wirklich ausloten kann. Glaube ist aber voll der reichen Erfahrungen mit Jesus und seinen Heil.
Viele vor uns haben das in Notzeiten schon erlebt. Wir nun auch. Selten in meinem Leben war sich die Menschheit so nah wie jetzt. Selten haben so viele Menschen weltweit so intensiv an ihrer Rücksicht geübt, wie in den vergangenen Wochen. Weltweit: In den Kirchen, in den Religionen, auch zwischen zerstrittenen Nationen. Die Sorgen verbinden. Die Kraft aber, mit Sorgen zu leben, sie auch zu überwinden, wird gespeist aus einer uralten Quelle. „Wo kommt meine Zuversicht her?“, fragte jemand. „Aus der Wurzel, auf der alles wächst,“ sage ich und wir sprechen vom Glauben an Jesus Christus.
Glaube ist das Kraftwerk Gottes. Vieles, womit wir uns befassen, ist nur Oberfläche. Ist es so wichtig, dass man die Hände schüttelt? Es ist nicht so wichtig, dass man sich umarmt. Und ist es vielleicht auch kein Schade, wenn wir in unseren Kirchen eine Zeit lang nicht singen? Das Kraftwerk Gottes, lehrt uns auch das Verzichten, dieses Zurücktreten um des anderen Menschen willen. Endlich geht es einmal nicht um „Ich“, „Ich“, „Ich“. Wir müssen Acht geben auf die Kraftquellen, die uns stärken, Acht geben und bemerken, welche Kräfte in uns gestärkt werden.
Wenn Jesus Christus sagt: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“, dann sagt er auch: „Jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, nimmt er weg.“ Und ich bin heute froh, dass jetzt im Mai nicht mehr beschnitten wird, nun wird die Hauptrebe wachsen. Denn wir spüren, Kraft schießt mit dem Glauben in das Leben. Und wir gleichen solcher Pflanze, die aus den tiefen Schichten, in die der Glaube vordringt, empfängt. Manchmal denken wir zu gering von uns, trauen uns viel zu wenig zu. Christus denkt groß von uns, er ist das Kraftwerk, „dass ihr viel Frucht bringt und werdet meine Jünger“. Wir spüren diese Kraft.
Die Ameise gilt als das kräftigste Tier. Sie kann ein Vielfaches ihres Körpergewichtes tragen. Der Weinstock zählt zu den großen Kraftwerken der Schöpfung, Christus ist das Kraftwerk für die Liebe, darum bekennen wir unseren Glauben. Amen – (es folgt das Glaubensbekenntnis.)
Fürbitte:
Du bist der Weinstock, wir sind die Reben.
Du gibst uns Kraft, wir sind es, die nehmen.
Wir bitten für die Kinder,
stärke sie in dieser Zeit.
Gott, erbarme dich.
Du bist der Weinstock, wir sind die Reben.
Du gibst uns Kraft, wir sind es, die nehmen.
Wir bitten für die Mutlosen,
trage sie durch diese Zeit.
Gott, erbarme dich.
Du bist der Weinstock, wir sind die Reben.
Du gibst uns Kraft, wir sind es, die nehmen.
Wir bitten für die, die Dienst tun, in Staat und Kirche, Medien und Verwaltung
schärfe uns in der Verantwortung.
Gott, erbarme dich.
Du bist der Weinstock, wir sind die Reben.
Du gibst uns Kraft, wir sind es, die nehmen.
Wir bitten für die, die in der Pflege, den Arztpraxen, Kliniken Dienst tun,
kräftige sie beständig neu für ihre Arbeit.
Gott, erbarme dich.
Du bist der Weinstock, wir sind die Reben.
Du gibst uns Kraft, wir sind es, die nehmen.
Wir bitten für uns und unsere Familien, für die Kranken und die Sterbenden, bewahre sie, dass wir aus deinem Wort Kraft empfangen.
Gott, erbarme dich.
Du bist der Weinstock, wir sind die Reben.
Du gibst uns Kraft, wir sind es, die nehmen.
Wir bitten für die Einsamen,
stelle ihnen Menschen an die Seite.
Gott, erbarme dich.
Miserikordias Domini, 26. April 2020
Evangelium: Johannes 20,19–20(21–23)24–29
Predigttext: Christus hat für euch gelitten und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußstapfen; er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand; der, als er geschmäht wurde, die Schmähung nicht erwiderte, nicht drohte, als er litt, es aber dem anheimstellte, der gerecht richtet; der unsre Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz, damit wir, den Sünden abgestorben, der Gerechtigkeit leben. Durch seine Wunden seid ihr heil geworden. Denn ihr wart wie irrende Schafe; aber ihr seid nun umgekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen. 1. Petr 2,21b–25
Predigt: Liebe Gemeinde, im März saßen wir beim Frühstück. Im Viertelstunden Takt kamen die Nachrichten, eine schwerer als die andere. Wir saßen bedrückt auf den Stühlen, schwiegen und grübelten, jeder hing für sich seinen Gedanken nach, rührte stumm im Kaffee. Sorgen lagen überall bereit. Wen möchte ich anrufen? Hoffentlich bleiben alle gesund? Wer könnte denn nun mal bei mir anrufen? Habe ich vorgesorgt? Viele von uns hatten und haben solche schweren Gedanken. Wenn solche Gedanken ziellos herumirren, fehlt ihnen der Hirte. Wir gleichen in manchem den irrenden Schafen, von denen auch der Petrusbrief weiß.
„Lasst uns Musik hören“, beschlossen wir eines Morgens. Die Dauer-Nachrichten pausieren. Mit Harry Belafonte hatten wir schon im Advent begonnen, wir mögen seine Weihnachtslieder. Wir holten die anderen CDs von ihm heraus. „Turn the world around“, klingt durch die Küche, karibische Instrumente, Anleihen an die Spirituals, Rhythmen und Melodien bleiben in den Ohren hängen. Dann folgt Aretha Franklin mit mehr Musik des schwarzen Amerikas. Fromm ist sie, beherzt vom Glauben. In dieser Musik liegt so viel Zuversicht, unverwüstlich ist sie, in Noten und Rhythmen eingefangen. Der Glaube klingt in dieser Musik durch jeden Ton hindurch und in jedem Rhythmus mit. Dieser Glaube sieht Jesus und den Menschen am Kreuz, dieser Glaube begehrt auf gegen das, was gerade Realität am Kreuz ist. Gegen Sünden, gegen den Tod, gegen das Unrecht tritt der Glaube an. Und während wir die Musik hören, gewinnen die Gedanken neuen Spielraum und winden sich aus dieser trüben Morgenstimmung heraus. Und wir sind uns sicher, ohne Musik wären wir arm.
II.
Jede Zuversicht, die wir empfinden, wurzelt im tiefsten Sinn in Jesus Christus. Wenn man eine Herleitung aller Zuversicht, die es in unseren Herzen gibt, schreiben wollte, dann würde die Zuversicht mitten im Leben Jesu beginnen. Denn Jesus ist der Wurzelgrund, aus dem heraus neues Leben wächst. Er schafft Raum und Abstand zu all dem Bleischweren. So lese ich die Bibel: Überall wird erzählt, wie er unsere Sünden „hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz“. Jesus heilt Menschen. Jesus weiß, wie das Reich der Himmel aussieht. Er deckt den Tisch für die kleinen und großen Betrüger, holt den Ganoven in sein Reich und schafft Freiheit den Gefangenen. Jesus hält den Tod auf Abstand. Alles, was wir von ihm wissen, dient dem Leben.
Jede und jeder muss im Moment aufpassen, sich die Zuversicht zu bewahren. Nicht stumpf werden, ist die Parole. Wenn die Nachrichten über den Frühstückstisch dudeln und WhatsApp und Twitter einem Neues vor die Füße sprudeln, dann braucht man mehr als gute Nerven. Da vergleicht jemand die vielen tausend Toten der Grippewellen vergangener Jahrzehnte mit den 100.000 Toten, die seit März als „Übersterblichkeit“ in Europa die Statistik über die Maßen belasten. 100.000 Sterbefälle mehr, das kann man nur als schweren Notstand beklagen. 100.000 Mal Not, Trauer, Abschied sind in jedem Fall 100.000 Mal zu viel. Nicht ein einziger Sterbefall, der durch Vernunft zu verhindern gewesen wäre, ist „normal“. Überall in Europa wird geweint. Die Welt ist in Angst.
Irgendwer sagt über einen jung verstorbenen Mann, „der wäre ja sowieso gestorben“, murmelt etwas von „Vorerkrankung“ und kennt den nicht einmal, weiß nicht wie kerngesund der war. So zu reden ist das Gegenteil von Zuversicht. Zuversicht braucht Mitleid. Dafür steht das Kreuz Christi. Mitleid und Rücksicht sind die Fußstapfen Jesu, in die treten wir ein. Dafür steht das Kreuz Christi. Nicht für das kalte Gerede über kalkulierbare Grippe-Wellen, die wir seit Jahren sowieso ertragen, die ja auch viel schlimmer seien. Und vor allem zeigt mancher Vergleich Mangel an Mitleid. Es wird düster, wenn jemand sagt, „die Alten sind ja sowieso dran“ und deren Recht auf Leben und Behandlung dann auch noch in Frage stellt.
Wir hören vom Kreuz Christi, davon, dass unsere Sünden dort durch ihn für uns abgestorben sind. Dieses Kreuz markiert den Mittelpunkt allen Mitleides. Danach klingt auch der neue Rhythmus, die neue Melodie, die aus dem Radio tönt, das ist der Sound des Glaubens.
Und schon verändert sich die Stimmung. Wir sehen noch auf die Einschränkungen und Petrus öffnet die Augen für Christus der ist das Vorbild. Wir sehen, was im Moment nicht geht: Hochzeiten in unserer Kirche sind nun fast alle abgesagt. Schulen dicht, Hotels zu, Konfirmationen verschoben und Petrus zeigt: Der Glaube an Jesus Christus ist die große, die erwachsen gewordene Schwester jeder Zuversicht.
III.
Petrus wendet sich hier den Sklaven in der Gemeinde zu. Christus sei in seinem Leid, ihr, der Sklaven Vorbild. Dass ein Autor der Bibel die Sklaverei nicht verdammt, bleibt natürlich ein Skandal. Dass Petrus aber Christus selbst in der Rolle des Sklaven sieht, hilft. Und so beginnt auch der Weg aus der Sklaverei heraus: Mitten in dieser Gefangenschaft, die wir erleiden, mitten in einer Krise, die viele Menschen mit uns ertragen. Denn wir tragen alle an den Sorgen, die sich auf die Seele setzen.
Harry Belafonte stimmt auf einer alten Aufnahme den Spiritual „Amen“ an, in dem wird Strophe für Strophe das Leben Jesu erzählt, immer mehr Sängerinnen und Sänger treten auf die Bühne kommen hinzu. Als der Chor am größten ist, heißt es: „Yes, He died to save us / And He rose on Easter, / Now He lives forever!“ Und bei diesem „Ja, er starb uns zu retten“, singen alle im Saal mit. Und das „Amen“ wogt wie eine Welle durch die Musik. So wächst die Zuversicht, dass wir diese Welle spüren und uns tragen lassen in einen Raum, der größer ist als das Gefängnis, das die immer gleichen und nie erlösenden Nachrichten um uns legen. Amen.
Sonntag Quasimodogeniti, 19. April 2020
Predigttext: Hebt eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat all dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: »Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber«? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden. Jesaja 40,26-31
Predigt: Liebe Gemeinde, die Vorhänge waren seit Tagen geschlossen. Niemand traute sich, das Tageslicht herein zu lassen. Er würde sterben, der Großvater. Altersschwach, Herz schwach, voller Sehnsucht nach seiner Frau. Die war vor einem Jahr gestorben. „Ich will zu ihr“, sagte er. Sie sahen, das Essen, der Kuchen, selbst der Kaffee vom Nachmittag stand kalt auf dem Nachttisch. Er wollte nicht. Dann trank er nichts mehr.
„Es ist Morgen“, rief die junge Pflegekraft ins Zimmer. Ihre Stimme klang unbeschwert. Mit Schwung öffnete sie die Vorhänge, das Sonnenlicht fiel hinein. Staubkörner tanzten im Licht. „Frische Luft“, klang wie ein Kommando. Der Fensterflügel flog beiseite. Sie stopfte die Bettdecke fest um ihn. Die frische Luft des Frühlings flutete das kleine Zimmer. Sie holte das Rasierzeug.
„Die junge Kollegin ist zum ersten Mal hier, sie hat alles richtig gemacht“, hieß es, als die Kinder nachmittags kamen. Es sei auch nicht „Sterbezimmer“ an der Tür geschrieben. Die Familie war überrascht. Der alte Großvater saß nachmittags auf der Bettkante, er nippte am Kaffee, seine Füße steckten in Sandalen. Er wolle nun „mal ein Stückchen laufen“, teilte er ihnen mit. Er sagte, die Sonne hätte schon wieder Kraft. Im Frühling hätten sie das doch immer so gemacht. Sie gingen bis an das Fenster und wieder zurück. Der Tod war unsanft beiseitegeschoben.
II.
Manchmal zieht eine beherzte Hand den Vorhang auf. Dann fließen Licht und Luft ins Zimmer und in das ganze Leben hinein. Die Müden kriegen neue Kraft und spüren Stärke. Die Matten bemerken, wie ihre Muskeln sich ganz langsam wieder anspannen wollen. Die Traurigen fragen nach dem Grund ihrer Trauer und erinnern kaum noch deren Anfang. Urplötzlich wird Ballast, den man mit sich trägt, federleicht und wippt einem ohne Gewicht leicht auf den Schultern.
Als die Lutherbibel für die Neuausgabe für 2017 durchgesehen wurde, unternahmen die Expertinnen und Experten einen Vergleich zwischen den bisherigen Übersetzungen. Die Verben „harren“ und „kriegen“ im Jesaja Buch wirkten leicht angestaubt. Vielleicht sollte man sie ersetzen. Es stand in alten Lutherbibeln schon einmal statt „harren“ das Wort „hoffen“ und statt „kriegen neue Kraft“, hieß es in der Einheitsübersetzung vor Jahren, sie „schöpfen neue Kraft“. In der Züricher Bibel steht jetzt, sie „empfangen neue Kraft“. Dann aber wählte man, trotz plausibler Alternativen, Luthers ursprünglichen Wortlaut „die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft“. Begründung, es dürfe in den Verben keine Aktivität auf der Seite des Menschen vorausgesetzt werden. „Harren“ und „kriegen“ öffneten dem Passiv und der Überzeugung des Reformators den größten Raum. Luther war davon überzeugt, dass alles, was an Heil geschieht, von Gott kommt. Ohne menschliches Zutun. Mit Luther selbst gesagt „das ist die christliche Freiheit, … dass wir keines Werkes bedürfen, um Gerechtigkeit und Seligkeit zu erlangen.“ Oder: Mensch tut nichts, Gott macht alles.
Licht hereinlassen, frische Luft in die Lunge, neuen Mut in der Seele, Hoffnung, die Freiheit, auch die Freiheit, sich selbst zu begrenzen, alles „kriegen“ wir.
Viele Erlebnisse aus den vergangenen Wochen bestätigen dieses „kriegen“ der neuen Kraft. Es ist vieles sehr bedrückend. Kindern wird es zu eng in der Wohnung, sie sehnen sich zurück in den Alltag. Alte leben einsam in einem Zimmer, sie träumen von Besuch. Erwachsene liegen nachts wach, rechnen nach, wie lange es noch gut geht bei der jetzigen Auftragslage, den Krediten, den Pflichten. Mir fehlen die Gottesdienste und das gemeinsame Gebet. „Wie geht es weiter?“, immer wieder diese eine Frage. Und die Antwort „Schritt für Schritt“ ist nur halb richtig. „Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt … Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden“, klingt kraftvoll. So zieht Gott den Vorhang auf, lässt Luft herein.
Ein Kind fragte: „Warum greift Gott nicht ein?“, berechtigte Frage. Die Gegenfrage liegt auf der Hand „Warum ist es uns Menschen nicht gelungen, diese Pandemie vor deren Ausbruch zu stoppen?“ Trotzdem fragt es weiter „Warum greift Gott nicht ein?“ Antwort ohne Gegenfrage: Gott greift ein, täglich. Er macht uns vorsichtig. Er macht uns oft auch viel zu egoistischen Menschen, solche Menschen, die aufeinander achten. Gott bewahrt uns den Mut, hält die Verzweiflung fern. Gott greift ein durch das Gebot, den Nächsten genauso zu lieben, wie sich selbst. Gott tröstet, wenn wir beten, Gott gibt Kraft, den Kindern, den Alten, den Sterbenden, uns allen.
In Donauwörth stellte die Polizei fest, dass es den Menschen schwer fiel, in den Wohnungen und Häusern zu bleiben. Da griffen die Polizisten zu ungewöhnlichen Mittel. Sie ließen ein Lied durch die Lautsprecher der Streifenwagen laufen: „Zusammenhalten“ sang Max Prosa mit Gitarre und Mundharmonika über die Straßen. „Es kommen wieder Zeiten, da werden wir tanzen, da werden wir fliegen. Es kommen wieder Zeiten, da werden wir uns für nichts auf der Welt verbiegen. … Doch für diese Zeiten, in denen wir uns, wie wir sind, entfalten, müssen wir jetzt zusammenhalten. Müssen wir jetzt still sein und zusammenhalten“. Und die Menschen verstanden „jetzt zusammenhalten“ und summten das Lied weiter und blieben endlich in ihren Wohnungen. Und die Stimme und das Lied des jungen Sängers wurde über Nacht bekannt.
„Warum greift Gott nicht ein?“ Er greift ein. Wir halten unsere Augen offen und bemühen uns, die Spuren, die sein Wirken durch diese Tage zieht, zu erkennen. Der Vorhang ist aufgezogen. Das Licht des Frühlings fällt in unser Leben und Ostern sorgt für Sicherheit.
III.
„Hebt eure Augen in die Höhe und seht!“ Als der Profet Jesaja nach einem längeren Schweigen seine Stimme wieder neu erhebt, ist Israel in Gefangenschaft geraten. Fern von Jerusalem, fern ihrer Heimat hat sich ein grauer Schleier über den Glauben gelegt. Israel erlebte eine bisher unbekannte Isolation, in der selbst der stärkste Glaube matt wird. Und genau in diesem Moment vernehmen sie Gottes Stimme, „die auf den Herren hatten, kriegen neue Kraft“. Das ist jüdisch-christliches Erbe, wenn in den schwachen Zeiten Gott den Vorhang beiseiteschiebt und sein Wort für Licht und frische Luft im Leben sorgt.
Eines Tages kam der alte Großvater von seinem Spaziergang zurück, er legte sich in sein Bett. Da kam die junge Schwester, die ihm mittlerweile ans Herz gewachsen war. Mit beherztem Griff schloss sie den Vorhang des Fensters. „Bitte einen Spalt offenlassen“, bat der Alte, „dann scheint morgen schon um 6 Uhr die Sonne herein.“ Amen.
Predigt zum Osterfest 2020, 12. April 2020
Evangelium am Ostersonntag: Markusevangelium 16,1-8
Predigttext: Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen. Nun aber ist Christus auferweckt von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind. Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten. Denn wie in Adam alle sterben, so werden in Christus alle lebendig gemacht werden. Ein jeder aber in der für ihn bestimmten Ordnung: als Erstling Christus; danach die Christus angehören, wenn er kommen wird; danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird, nachdem er vernichtet hat alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt. Denn er muss herrschen, bis Gott »alle Feinde unter seine Füße gelegt hat« (Psalm 110,1). Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod. Denn »alles hat er unter seine Füße getan« (Psalm 8,7). Wenn es aber heißt, alles sei ihm unterworfen, so ist offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat. Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, auf dass Gott sei alles in allem. 1. Korintherbrief 15,19-28
Predigt: Liebe Gemeinde, „Ich gehe jetzt Gott malen!“, sagte die vierjährige Enkeltochter eines bekannten Malers. Der Großvater fand das Vorhaben übermütig. Wie sollte ein Kindergartenkind ohne wesentliche Vorkenntnisse ein Bild von Gott malen. Nach 10 Minuten kam die Kleine zurück. In der Hand ihr Bild von Gott. Ein Mensch, ein Kreuz im Hintergrund, füllt die Bildmitte aus. Der Mensch ist schwarz, ein Leib umgeben von einer hell-gelben Hülle. Das Kreuz in Grün, ein Regenbogen drumherum. Am Himmel eine Wolke mit lächelndem Gesicht. Dem Großvater stockt der Atem. Er hat mir das Bild gezeigt.
Ich sehe den Thron Gottes, dieses „alles in allem“ hat in der Kinderfantasie offenbar einen Ort bevor davon die Rede war. Und ich erkenne mitten in dem Bild Adam und Christus. Beide, Adam und Christus scheinen in einer Gestalt zusammengefasst. Schwarz ist der alte Leib des alten Menschen und das Gelb, es soll vielleicht Gold sein, deutet auf den Erstling Christus, von dem Paulus spricht. Adam, in der Farbe der Erde, hat die Welt mit dem Tod infiziert. Christus, wie eine helle Gestalt, umfängt diesen sterblichen Leib und bringt die Auferstehung ins Bild hinein. Der eine geht unter, der andere ist auferstanden. Vielleicht haben die Eltern das mal so erklärt: Der Körper kommt ins Grab, die Seele geht in den Himmel. Aber Kinder mögen das Leben nicht trennen, halten beides zusammen, den Leib und die Seele. Wie ein Stapelbild fügt sich hier Alt und Neu, Karfreitag und Ostern übereinander. Wie so oft im Leben, wenn sich über das, was einen nach unten zieht, etwas Neues legt. Und das Neue ist stärker. Wie der Frühling sich über der grauen Landschaft ausbreitet, oder junge, werdende Eltern sich auf die Geburt ihres Kindes freuen und die ganze Familie sich mitfreut bildet sich in dem, was jetzt ist, das Neue ab.
Und dann sehe ich auf dem Kinderbild das Lächeln in dem Gesicht. Ich weiß, Kinder malen nur lächelnde Gesichter, das ist normal. Das Grimmige kommt später. Adam lächelt also, ist freundlich, als könnte ihm nun nichts mehr geschehen. Das ist dann die Erlösung, wenn selbst der Schuldige die Freiheit bekommt, sich über die Erlösung, die ihm widerfährt, zu freuen. „So werden in Christus alle lebendig gemacht werden“, kein Wunder, dass Adam lächelt. Es wäre eher verwunderlich, wenn der Schmerz Oberhand gewinnen würde. Es dürfte niemanden überraschen, wenn alle von uns Christen mehr Hoffnung erwarten als von anderen Menschen.
„Ich gehe jetzt Gott malen!“, es braucht kindlichen Übermut, sich auf dieses Wagnis einzulassen. Aber Ostern lebt auch in uns Erwachsenen von einer Portion Wagemut. Es lebt auch von einem Lächeln, dieses Fest zaubert es einem auf das Gesicht und in die Seele. Es lebt von der Freude an diesem Leben, den fetten Knospen, die an den alten Kastanien bald aufplatzen, von dem frischen Grün, das im Wintergetreide aufsteigt, von dem erdigen Duft der Äcker, die frisch eingesät worden sind. Ostern lebt davon, dass wir nicht im Heute hängen bleiben. Das wäre für dieses Fest eine große Gefahr.
Wenn um einen herum vieles schwarz und düster wirkt und es vielen von uns auch um die Seele dunkel wird, dann kann man es machen, wie dieses vierjährige Kind, man versucht die Auferstehung zu erkennen, die der Glauben mindestens in Gelb, wenn nicht sogar in Gold, in das Dunkle hineingemalt hat.
Gott malen am Osterfest, das zeigt uralte Bilder und neue Schreckensszenarien, die überzeichnet werden durch die Hoffnung. Denn Christus hat seine Gemeinde mit der Hoffnung versorgt, die nicht mehr nur zum schwarzen Stift greift. Weil sie mehr sieht als nur den dunklen Adam und den sterbenden Christus am Kreuz. Manchmal braucht es einen unbedarften Kinderblick, um das alles zu erkennen. Hoffnung hebt sich deutlich ab von dem, was man sowieso schon immer sehen, hören, anfassen kann.
II.
Deshalb wendet Paulus alle erdenkliche Sorgfalt auf, in der zweifelnden Gemeinde den Glauben an die Auferstehung Jesu zu stärken. Schritt für Schritt führt er von dem einen Menschen, durch den der Tod gekommen ist, zu Jesu Auferstehung. Von diesem Patienten Null, der den Tod überhaupt erst eingeführt und uns alle infiziert hat, von Adam, lenkt Paulus Schritt für Schritt hin zu Christus, der die Auferstehung bringt.
Von Christus, dem Erstling, führt er dann weiter zu uns, und weitet die Auferstehung Schritt um Schritt auf die Gemeinde und darüber hinaus aus. Es ist wie eine Welle der Auferstehung, die nicht am Strand ausläuft, sondern durch das ganze Meer rollt. Und dann kommt auch noch der Tod selber an die Reihe. Der Tod wird vernichtet. Kurz: Der hat ausgedient. Es gibt alte Bilder, auf denen schweben all die Marterwerkzeuge, mit denen Christus und viele andere Menschen gequält werden, in die Hölle. Der Tod hat ausgedient.
Paulus schreibt hier in der Form der Zukunft. Er weiß aber, dass Hoffnung, die auf die Zukunft setzt, schon die Gegenwart bestimmt. So macht die Hoffnung, die sich auf das richtet, was sein wird, das heute lebenswert. Darum zaubert die Hoffnung schon jetzt, auch den Trostlosen, ein Lächeln auf das Gesicht, selbst wenn bangen Fragen an die Zukunft Oberhand haben sollten.
Die gewagte Zeichnung einer Vierjährigen trifft den Nagel auf den Kopf. Die Not, die ohne jeden Zweifel auf dieser Welt und den Menschen lastet, wird von der Auferstehung überholt. Vielleicht können nur Kinder Gegenwart und Zukunft so unmittelbar in einen Zusammenhang bringen. Aber diese Zusammenschau sorgt für ein befreiendes Lächeln, weil sie das schwere Schwarze mit anderen Farben umgibt.
III.
Wer schon einmal ohne Hoffnung war, weiß wie sich das anfühlt, wenn alles nur noch dunkel ist. Es reicht eine Stunde tiefer Trostlosigkeit und man begreift, warum das Kind bei der Zeichnung auch zum schwarzen Stift gegriffen hat aber vom Gelb nicht lassen konnte. Jeder Gedanke an Adam ist eine Erinnerung an diesen Patienten Null, der die Welt mit dem Sterben infiziert hat, alle Menschen, alle Tiere, alle Schöpfung der Vergänglichkeit unterworfen hat. Christus hat den Sieg darüber nicht mit leichter Hand errungen. Keiner hat einen so grausamen Tod auf sich nehmen müssen wie er. Nicht nur dieses Kreuz und das Leiden zeigen, was ein schrecklicher und qualvoller Tod, dieses langsame Ersticken am Kreuz bedeutet. In dieser Qual hat er all die Gottverlassenheit hineingenommen, die Menschen angesichts des Todes überfallen kann. Aber das Grab, in das man ihn gelegt hatte, fanden die Frauen am anderen Tag leer vor. Und der Apostel zieht die Linie, von Christus aus und führt so direkt zu uns.
Wie nötig wir die Hoffnung auf die Auferstehung haben, wissen wir spätestens dann, wenn sie uns einmal fehlt. Bei nächster Gelegenheit will ich mich an das Bild einer Vierjährigen erinnern. Intuitiv zeigt sie, worum es geht. Es geht um den Wandel, der vom Tod zum Leben führt: das ist das Entscheidende an Ostern. „Tod, wo ist dein Sieg? Tod, wo ist dein Stachel? Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gibt durch unseren Herrn Jesus Christus.“ In diese Umwandlung, die vom schwarzen Bild des Todes zum Leben führt, zieht uns das Osterfest hinein. Der Blick auf den Gekreuzigten, bringt sein neues, unzerstörbares Bild zu Tage. Die Verheißung des Lebens ist stärker als alles, was sich dagegenstellt.
Predigt am Karfreitag, 10. April 2020
Evangelium am Karfreitag: Johannes 19,16–30
Predigttext: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott! Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde gemacht, auf dass wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt. 2. Kor 5,19–21
Predigt:
Liebe Gemeinde, liebevoll schmiegte er sich an, zärtlich umarmte er ihn, gibt ihm einen Kuss. Mit diesem Kuss wies Judas den Verfolgern ihren Weg zu Jesus. Der Kuss des Judas ging als Kuss des Verrates in das Gedächtnis der Menschheit ein. Immer wenn innige Nähe zum Verrat wird, dann ist Karfreitag. Alles ist wie auf den Kopf gestellt. Nähe wird vorgegaukelt, aber Entfernung ist gemeint. Wenn ein Kuss in die Lüge verkehrt wird, dann ist die Stunde des Kreuzes.
Manchmal denke ich, als hätte dieser neuartige Virus für so eine verkehrte „Judas-Welt“ gesorgt. Wenn jeder echte Kuss zum Verrat werden könnte, wenn jede nötige Nähe nur auf 2 Meter Abstand echte Nähe ist, dann könnte es sein, dass diese verkehrte Welt doch noch über uns alle siegt.
Eine Großmutter sagt: „Das ist nicht richtig, ich konnte nur durch das Fenster zu meinen Enkeln winken“, die durften nicht zu ihr, um den Kuss und die Ostereier abzuholen. Sie hätten geweint. „Aber es geht ja nicht anders“, sagte die Großmutter. Sie spricht noch Rücksicht, aber ihr Schmerz ist spürbar. Es gibt viel Schmerz. „Mir fehlen die Gottesdienste“, höre ich in Dargen. „Ich kann allein nicht so gut beten, ich brauche die Gemeinde“, sagt jemand in Ahlbeck. „Ich habe Sorgen um meine Enkel“, sie seien auf Reisen gewesen. Wohin soll man mit all seinen Gedanken, wenn alles so verkehrt ist.
Wir suchen nach Versöhnung, um mit dem, was wir erleben, zurecht zu kommen. Die Botschaft des Apostels Paulus richtet sich an eine zerrissene Gemeinde. Die Gemeinschaft war von innen bedroht, vieles läuft verkehrt. Das lag vor allem an den Menschen, die nur ihren eigenen Interessen folgten. Als Paulus schrieb, hatte er so viel Verkehrtes vor Augen, wie wir es um uns herum gerade erleben. Allerdings war das alles selbst gemacht.
„Lasset euch versöhnen mit Gott!“, ist ein Weckruf. Der Apostel erinnert, was eigentlich alle schon lange wissen: Gott versöhnt die verkehrte Welt mit sich selbst. Das Wort „Versöhnung“ hat Paulus der antiken Diplomatensprache entnommen. „Versöhnung“ bezeichnete ursprünglich den Vorgang des Friedensschlusses zwischen zwei verfeindeten Volksgruppen. Paulus führt dieses Wort in den Glauben ein. Versöhnung wird zu einem umfassenden Friedensschluss zwischen verkehrtem Leben und Gott. Der Friedensschluss gehört zum Kreuz Christi. Hier bringt Gott seinen Willen mit unserem verkehrten Leben zusammen. Krasse Gegensätze kommen zur Versöhnung. Unvereinbares findet in Gott Verbindung. So wie das Kreuz senkrecht zum Himmel ragt und waagerecht den Horizont nachzeichnet, so kommt Gott sich mit der Welt zusammen. Da, wo alles verkehrt ist, wo der einzige Mensch, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, mit dem Tod ringt, da beginnt die Versöhnung. Ich habe einmal gelesen „Gott hat der ganzen Welt den Versöhnungsteppich unter die Füße geschoben.“ Und ich sehe uns auf diesem Teppich laufen.
Vieles, was wir seit Wochen erleben, sucht eine solche innere Versöhnung: Vertraute Nähe wird zur Gefahr. Nicht die Hand reichen zu dürfen und so viel Abstand halten zu müssen, dass wir nur noch laut miteinander sprechen können, kann man auf Dauer nicht ertragen. Wenn normale menschliche Nähe sogar mit dem Judaskuss vergleichbar wird, dann braucht es einen neuen, inneren Friedenschluss.
Das höre ich von Vielen: Wir müssen jetzt über allen Maßen stark sein. Und wir sind es. Ich denke, weil wir wissen, dass Jesus sogar den verkehrten Kuss erlitt. Sein Kreuz hat er selbst getragen. Er hat den verkehrten Zorn von allen Seiten zu spüren bekommen. Doch nicht auf das Äußerliche kommt es an, sondern darauf, dass Gott „in Christus war und versöhnte die Welt mit ihm selber und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.“
Versöhnen ist Gottes Tat. Wir werden die Dinge hinnehmen, die wir nicht ändern können. Wir werden sogar besser darin, das Verkehrte unserer Zeit zu erdulden. Weil wir ahnen, was Versöhnung ist, ein Friedensschluss, der uns erreicht.
Eine Frau erinnert sich, dass sie vor 75 Jahren schon einmal eine vollkommen verkehrte Welt erlebt hat. Da seien ihr die Bomben „um die Ohren geflogen“, sagt sie. Die Einsamkeit heute, in ihrer selbst gewählten Isolation, sei doch nichts im Vergleich dazu. Heute spüre sie, wie Gott ihr damals und heute geholfen habe. Sie könne beten und fände darin inneren Frieden. Sie sei mit all dem Schweren, das sie damals ertragen musste, dann doch auch heute versöhnt.
Versöhnung heißt: Der Verrat des Judas, die verkehrte Zeit, die wir erleben, wird nicht von Dauer sein. Wir planen alle an einem Neuanfang unseres echten Lebens. „Was werdet Ihr als erstes tun?“, fragten die Kinder, „Nichts“, sagten die Eltern, „uns einfach freuen und zusehen, was die anderen machen.“ Außerdem lägen da noch die Ostereier bereit. Die wollten die Kleinen sich noch holen.
Viele solche Überlegungen können einen mit dem Heute versöhnen. Und in unseren Kirchen: Vielleicht werden wir behutsam beginnen, Zwischenräumen schaffen und werden noch vorsichtiger sein. Aber: Der Teppich, der uns unter die Füße geschoben wurde, ist der Teppich der Versöhnung. Auf diesem Teppich lernen wir das Laufen.
Predigt zum Sonntag Palmarum, 5. April 2020
Text: Markus 14,3-9
Predigt: Liebe Gemeinde, die Diskussion um die Kosten verstummten, als alles fertiggestellt war. Heute sind die Hamburgerinnen und Hamburger stolz auf ihre Elbphilharmonie. „Unsere Elphi“ liebkost ein Name das neue Wahrzeichen. Millionengrab? – fast vergessen. „Vergeudung“ – das gilt nicht mehr. Heute ist da viel Stolz auf diesen wunderbaren Bau. Das, was auf den ersten Blick nach Verschwendung aussah, wurde zum Wahrzeichen einer Stadt. „Das Beste ist für uns gerade gut genug“, sagen die selbstbewussten Hamburgerinnen und Hamburger.
II. „Das Beste ist für uns gerade gut genug“
Eine Frau tritt während der Mahlzeit ein. Ihr Auftritt zeichnet eine tiefe Spur in die Geschichte. Alle in der Runde verstummen, starren sie an. Der Alabaster zerbröselt leise, sie gießt kostbares Öl auf Jesu Haupt. Betörender Duft breitet sich aus, erfüllt den ganzen Raum. „Skandal“, flüstert jemand. Jeder kann es hören. „Verschwendung, unerhört“, sagt ein anderer laut, unüberhörbar. Empörung macht sich breit. „Und die Armen nebenan, was ist mit denen?“, fragt einer. Alle nicken „die Armen, die hätten das jetzt nötig.“
Ausgerechnet dieser Frau wird mit dem Evangelium dieses Denkmal gesetzt. Wer ist die eigentlich, woher kommt sie, wohin will sei? Eine Hure ist sie vielleicht, wer weiß. Viele Geschichten ranken sich um sie, die Literatur ist voll. Heute möchte niemand diese Frau missen. Denn sie steht für eine Haltung. Sie ist unbekümmert, sie ist beherzt, sie nimmt sich frech die Freiheit. Und Jesus gewährt sie ihr. Von ihr geht etwas aus, sie wendet sich Jesus zu. Und „das Beste ist gerade gut genug“. Dann weist Jesus die in ihre Grenzen, die meckern und lästern, tuscheln und sich ereifern. Diese Frau setzt ein Zeichen für menschliche Größe und Jesus versteht sie, unterstützt das. Er macht aus dem, was die einen Vergeudung nennen, auf der anderen Seite ein Wahrzeichen.
Seit Montag nähen Frauen – warum eigentlich nur die Frauen?- an vielen Orten unserer Insel. Sie fertigen Masken, die sollen andere Menschen Sicherheit geben. „Das bringt nichts!“, sagen die einen und belächeln den „Aktionismus“. Solche Bereitschaft etwas für andere zu tun, wird aber zum Wahrzeichen der Krise. „Es ist wie früher der Akkord“, sagt eine Schneiderin. Sie gibt – wie viele es tun – ihr Bestes und das ist gut genug.
Solcher Freiheit, die gegen alle Widerstände etwas tut und erreichen will, ist im Evangelium ein Denkmal gesetzt. Selbst wenn es dem eigenen Schutz dienen sollte, für viele Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, wird das Rattern der Nähmaschinen zum Symbol. Es zeigt, dieses „wir helfen euch“, das ist das Beste, was uns allen passieren kann. Und das Beste ist immer gut genug.
Tief im Hintergrund schimmert in all dem durch, worum es in dieser Woche bis Ostern gehen wird. Gründonnerstag, das Heilige Abendmahl, Jesus setzt es ein. Er gibt das Beste, sich selbst, sein ganzes Leben, legt er hinein in Brot und Wein. Karfreitag, Jesus gibt das Wertvollste, was Gott geben kann, sich selbst. Unschuldig gerichtet, die Leute tuscheln wieder und wenden sich ab. Dann wird das Kreuz, ein Marterwerkzeug, zum Wahrzeichen und steht für Leben.
III. Luxus Freiheit - Festhalten am Glauben
Eine der Jubiläumskonfirmandinnen, die heute leider nicht feiern kann, sagte: „Das war damals ein Schritt in die Freiheit.“ Sie hätte sich sehr erwachsen gefühlt und selbstständig mit ihrer Entscheidung für die Konfirmation. Sie wollte in der Jungen Gemeinde und aus dem christlichen Glauben leben. Sie wusste, dass ihr Leben in mancher Hinsicht anders sein würde als das vieler anderer Menschen. Sie spürte in unserer Kirche eine unerhörte, manchmal sogar freche Freiheit. Das Beste ist schließlich gerade gut genug.
Das ist Freiheit: Festhalten am Glauben, auch wenn die kritischen Blicke jedem Schritt, den man tut und jedem Wort, das man sagt, voller Argwohn folgen. Es braucht solche Freiheit, wenn alle um einen herum ängstlich ins Schweigen fallen oder ihre Köpfe schütteln, wenn man für seine Hoffnung verunglimpft, für seine Gebete belächelt und für sein Engagement beschimpft wird. Für den Glauben an Jesus Christus steht diese Frau, sie ist ein Wahrzeichen.“ Lasst sie! Was bekümmert ihr sie?“, mit dieser einfachen Frage holt Jesus einen Glauben voller Überschwang in unser Leben hinein. Denn, das Beste ist für uns gerade gut genug.
Am Gründonnerstag jährt sich der Todestag von Dietrich Bonhoeffer. Am 9. April 1945, also vor 75 Jahre wurde der Theologe ermordet. Sein Leben ist für viele von uns ein Vorbild. Sein Name steht für Zivilcourage, gelebtes Christsein. Politischer Widerstand beginnt für ihn im christlichen Glauben. Christen und die Kirchen, sagte er, müssten „dem Rad selbst in die Speichen fallen“. Er hat sein Leben hingegeben für den Widerstand gegen den Unrechtsstaat, den die Nazis errichtet hatten.
„Der Christ steht frei ohne irgendwelche Rückendeckung vor Gott und vor der Welt, auf ihm allein ruht die ganze Verantwortung dafür, wie er mit dem Geschenk der Freiheit umgeht“, schreibt Bonhoeffer. Er greift nach dieser Freiheit, der Christus schon im Evangelium Raum geschaffen hat. Bonhoeffer war Opfer und ist zugleich ein Wahrzeichen geworden. An ihm richten sich viele Menschen aus. „So leidet Christus stellvertretend für die Welt. … Stellvertretend steht die Gemeinde Jesu Christi für die Welt vor Gott indem sie nachfolgt unter dem Kreuz. Gott ist ein Gott des Tragens“, schreibt er.
Während das Gerede vom Skandal verstummt ist, genießen die Menschen den Anblick der „Elphi“, lauschen den Konzerten. Es ist oft der Skandal, der am Anfang steht, der dann zum Wahrzeichen wird.
Ein Fläschchen kostbares Öl, der Ruf „Verschwendung“ wird laut, das Salböl entfaltet seinen Duft. Am Kreuz stirbt er. „Welch ein Skandal“, denken selbst die, die ihn nur von Ferne kannten. Und denen, die Jesus liebten, zerriss es das Herz. Wer konnte am Anfang schon ahnen, dass hier für das Ende ein Wahrzeichen errichtet ist. Das Kreuz zeugt, das Beste ist bei Gott für uns immer gut genug.
Predigt
Gebet mit Kindern:
Himmel ist dein,
Erde ist dein,
Licht ist dein,
Leben ist dein,
ich bin dein.
Gott hüte mich,
bewahre uns.
Himmel, schicke Trost,
Erde lass sprießen,
Leben lass wachsen.
Ich bin dein, mein Gott.
Judika, 29. März 2020
Predigttext: Jesus hat, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Hebräerbrief 13,12-14
Predigt: Liebe Gemeinde,
auf meinem Weg ins Büro bin ich einige Jahre täglich an einem alten Galgenberg vorbeigeradelt. Die frühere Hinrichtungsstätte liegt am Rande der Stadt Meldorf. Der kleine Hügel in der flachen Landschaft, unter alten Bäumen ist er kaum zu übersehen. Hier, draußen vor dem Tor, vollstreckte der Henker die grausamen Urteile.
Draußen, vor dem Tor, ist der Platz für den Galgenberg. „Da ist es unheimlich“, sagten unsere Kinder. Dann stellten sie sich hier Mutproben, kletterten durch die Wildnis und erschraken über allerlei Dinge. Das erfuhren wir erst Jahre später. „Da mussten wir durch“, sagen die Kinder heute.
„Draußen, vor dem Tor“ – da gelten andere Gesetze. Schon immer. Grusel und Angst gehören an diesen fernen Ort. Da ist man allem im wahrsten Sinne des Wortes „ausgesetzt“.
Niemand sucht solche Orte. Genau dorthin wendet Jesus seinen Weg. Da wo ihm der Wind eiskalt um die Ohren pfeift, und er hält stand. Der Hebräerbrief zeigt den Galgenberg und spricht von Jesu Sühne, die hier an diesem Un-Ort bleibt. Und der Brief sagt „ein für alle Mal“ (Hebräer 10,10). Jesus hält an diesem Un-Ort dem Leid stand. Er ist der einzige, der das erträgt. Und er überwindet es. Jesus wird zum Hohenpriester für uns (Hebräer 4,14).
II.
„Man kann das kaum aushalten“, sagt jemand, ich höre es aus unseren beiden Gemeinden. „Die Alten aus der Pommern-Residenz sind so schlimm dran.“ „Überall ist plötzlich Kurzarbeit.“ „Wir müssen doch unsere Miete bezahlen, die Kinder kosten, die Monatskarte, das Auto frisst Geld.“ Das muss man jetzt alles aushalten. Dann die Meldungen, die Zahlen, diese Kurve mit den Infektionen, die immer weiter ansteigen und näherkommen, die Angst. Der Leichtsinn vieler kommt dazu. Heute ist es, „als hätte mir das Leben einen Stuhl vor die Tür gestellt.“ Man muss das aushalten. Tief durchatmen, ertragen und beten. Der Hebräerbrief sieht hier Jesus Christus, der hält das alles aus, für uns. Und Martin Luther sagt: „Ein Schluck Wasser oder Bier vertreibt den Durst, ein Stück Brot den Hunger, Christus vertreibt den Tod.“
„Draußen, vor dem Tor“, da sind wir nicht verlassen. Denn: Es wird geholfen, Menschen sind unterwegs, helfen, bergen, retten, bewahren die Alten und Kranken, sie setzen ihre Gesundheit selbst auf das Spiel. Wir lernen das alles noch einmal neu, was Nähe uns wirklich bedeutet.
Solange jemand Licht ins Fenster stellt, wir unsere Glocken läuten, wenn wir für den anderen beten, sind wir nicht „draußen, vor dem Tor“. Da ist Christus, nur er, aber für uns. Und dann singt eine leise Stimme „Verschon uns Gott mit Strafen und lass uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbarn auch“. Das hat Jesus dort draußen für uns bewirkt.
Zum Glück sind wir nicht draußen vor der Stadt auf dem kalten Galgenberg. „Draußen, vor dem Tor“, liegt Golgatha, die Märzsonne scheint grell, und es ist menschenleer. Der Galgenberg ist überwunden, denn „Christus vertreibt den Tod.“
III.
Wir werden uns später an diese Tage im März 2020 erinnern. Die Kinder werden sich noch in Jahrzehnten die Stimmung vergegenwärtigen können. Es ist für sie mehr als eine Mutprobe. Und an dieses Aushalten, das wir Erwachsene unseren Kindern vorleben, werden sie sich erinnern. Auch aus der Disziplin der Eltern, Großeltern werden sie lernen. Dieser kalte Hauch aber, der uns nun bedroht, wird sie immer wieder anwehen. Wir setzen Maßstäbe für unsere nachwachsende Generation.
Als die Kinder später von ihren „Mutproben“ in Meldorf am Galgenberg erzählten, klang das so: „Da haben wir das Gruseln gelernt in der Wildnis und jedes Geräusch ließ das Herz bis zum Halse pochen.“ Sie hätten geübt „wie man Angst aushält“, sie hätten es trainiert, wie im Sport. Ihre damaligen Mutproben helfen ihnen jetzt, wenn es mal eng wird. Denn sie wussten fortan ja, man kommt durch Angst hindurch. Dieses „draußen vor dem Tor“, das gibt es nicht mehr. Christus hat all diese Einsamkeit ausgestanden. Ein für alle Mal. Außerdem: Der Galgen und das Schafott sind demontiert. Das Todeswerkzeug gelangte nicht einmal in das schöne Meldorfer Museum. All das Werkzeug des Schreckens ist Schrott, seit Christus.
Sonntag Lätare – freuet Euch! 22. März 2020
Predigttext: Freuet euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt! Freuet euch mit ihr, alle, die ihr über sie traurig gewesen seid. Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. Denn so spricht der Herr: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebkosen. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden. Ihr werdet's sehen und euer Herz wird sich freuen, und euer Gebein soll grünen wie Gras. Dann wird man erkennen die Hand des Herrn an seinen Knechten und den Zorn an seinen Feinden. Jesaja 66,10-14
Liebe Gemeinde,
nun sitzen wir in unseren Wohnungen und Häusern. Mir fehlen die vielen Begegnungen mit Ihnen in Ahlbeck und Zirchow sehr. Persönlich, wenigstens mit einem Blick in die Augen, das ist doch echtes Leben. Das Telefon bietet jetzt für die Zwischenzeit einen guten Ersatz.
Manchmal spüre ich auch eigene und fremde Angst. Sie will aufsteigen und lässt sich gelegentlich schwer besiegen. In der Nachbarschaft gehen die jungen Frauen und Männer in die „Kurzzeit“. Existenzen geraten in Gefahr. Familien sind verteilt. Ein Patenkind war noch in Mexico, ein Freund arbeitet in Afrika. Jetzt sind sie wieder zuhause und mindestens zwei Wochen isoliert. Und unsere Kinder leben auf dem Festland: München, Leipzig, Hannover, mitten in der wuseligen Innenstadt. Sie wären vorletzte Woche gerne „noch schnell“ nach Hause gekommen. Sie haben aber verzichtet, wollten mögliche Infektionen nicht weitertragen. Sie sind zum Glück gesund.
Unsere Sorgen verwandeln sich immer wieder zu Gebeten. Im Sinn habe ich wieder ein altes Nachtgebet: Müde bin ich, geh zur Ruh – (Evangelisches Gesangbuch Nummer 484).
„Alle, die mir sind verwandt,
Gott, lass ruhn in deiner Hand;
alle Menschen, groß und klein,
sollen dir befohlen sein.“
II. „Lätare“ - „freuet Euch“
Der Predigttext heute wechselt den Ton, der uns durch die zurückliegende Woche begleitet hat. Er findet Worte, die die Angst niemals wählen würde. „Lätare“, „freuet Euch“ heißt dieser Sonntag. Freuet Euch. Dem Volk Israel war ein Land versprochen, in dem würden Milch und Honig fließen. Und: Dieses Versprechen hat Freude ausgelöst, schon bevor es eingelöst werden konnte. „Vorfreude ist die schönste Freude“, sagte meine Mutter gerne. In den Fastenzeiten liegt immer eine Verheißung, die auf ein Ziel hinweist.
Ein einziges Versprechen hat die Kraft, der Gegenwart Glanz zu geben. Das Versprechen Gottes entfaltete die Kraft, die ein ganzes Volk benötigte. Und sie kamen durch die Wüste. So wie wir es jetzt auch erwarten.
Der Zukunftsforscher Mattias Horx stellt sich vor, wie er im September 2020 in einem Straßencafé sitzt, vor ihm eine Tasse Kaffee. Er stellt seinen Leserinnen und Lesern einen neuen Alltag vor, der von den jetzigen Erlebnissen profitiert: „Die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, erzeugte gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde, sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst“ (aus: www.horx.com und www.zukunftsinstitut.de). Die Vorstellung, dass wir unsere Haustüren wieder öffnen werden und wieder zur Kirche gehen und Menschen richtig begegnen können, sorgt für etwas hellere Gedanken.
Von der Verheißung des Gelobten Landes zehrte eine ganze Generation. Von der Verheißung Gottes zehren wir beständig. Da geht es elementar zu: „Nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes“. Der Gott der Bibel rechnet auch bei uns Erwachsenen mit kindlichen Bedürfnissen. Die spricht er an, er erkennt unsere Trostlosigkeit und unsere Trostbedürftigkeit. Und er spart nicht mit Trost: „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Es geht um Gott, der bleibt Hinwendung zu uns. Und wir lernen im Moment neu Gemeinde zu sein, Zusammenhalt zu wahren ohne direkten Kontakt halten zu können. Wir teilen viele Ängste und wir teilen die Verheißung Gottes. Der Verheißung aber gehört dieser Sonntag.
Mitten in der Fastenzeit – es sind nur noch wenige Wochen bis Ostern – tritt die Auferstehung Jesu in unser Blickfeld. Da kommt Vorfreude auf. Auferstehung ist für uns zunächst Verheißung. Wir nehmen schon jetzt an der Auferstehung teil. Das neue Leben ist aus der alten Welt nicht weg zu denken. Der Karfreitag, das Kreuz, der Tod Jesu, diese dunkle Stunde der Menschheit und Gottes, wird einmal kurz übersprungen. Das sorgt heute für Trost, denn die Osterbotschaft reduziert die Angst, im besten Fall befreit sie uns von der Angst. Das erleben viele von uns.
Ich denke an unsere Ahlbecker Kirche: Mit Bedacht haben die Erbauer das Christusfenster in die Mitte gestellt. Es ist Verheißung, was wir hier sehen. Das schwere Kreuz als steinerne Siluette immer im Blick, schmälert die Verheißung nicht. Denn es war der Tod Jesu, der Tod durch Menschenhand, der uns zu dieser Quelle des Lebens bringt.
III. #balkonsingen
Die stärkste Kraftquelle liegt im Moment bei den vertrauten Worten, die einen ganz elementar ansprechen. Sie geben der Verheißung eine Sprache für unsere Zeit. Viele, die in der Not die Sprache für den Glauben verlieren könnten, entdecken das neu. Wir sind alle dabei, die alten Kraftquellen, die uns von Kindertagen an vertraut sind, neu zu entdecken. Sie sind die Muttermilch, die den Glauben, der in uns gewachsen ist, angefüttert haben.
Im Pfarrhaus in Ahlbeck und gelegentlich auch in Zirchow leuchten abends ab 19.00 Uhr Kerzen aus den Fenstern. - Das machen seit Donnerstag viele Menschen in ganz Deutschland. - Zu zweit singen wir: „Der Mond ist aufgegangen“. Es ist für uns ungewohnt. Selten haben wir nur zu zweit gesungen. Es waren doch immer die Kinder oder Gemeinde dabei oder einer unserer Kirchenchöre. Aber wir entdecken gerade, wie die unterschiedlichen Strophen dieses Liedes, neue Kräfte entfalten und dann schließen wir mit:
„So legt euch Schwestern, Brüder
in Gottes Namen nieder.
Kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen
und unsern kranken Nachbarn auch.“ (Evangelisches Gesangbuch 482,7)
In Gedanken treten beim Singen viele Menschen vor das innere Auge. Ich habe auch den Blick von den Altären über die Kirchen, viele Ihrer Gesichter vor Augen. Der fehlt am Sonntag. In diesen Liedern liegt eine Kraft, die die Sorgen einmal überspringt. Und das Wissen, dass andere an anderen Orten auch singen, tröstet heute. Am Sonntag werde ich abends eine Leuchte vor das Christusfenster stellen. Dann ist der Christus auch von draußen zu sehen. Er zeigt uns: Wir leben von dieser Verheißung.
NDR Kultur / NDR Info, Montag, 16. März 2020
Henning Kiene, Pastor in Ahlbeck und Zirchow auf Usedom
Wenn nachts die Gedanken kreisen
„Plötzlich war die Nacht zu Ende“, sagte er, „es ist gerade mal 4.30 Uhr und ich liege da, hellwach, und die Gedanken kreisen: Kleine Probleme machen sich riesig und alles, was gut ist, schrumpft zusammen.“ Wochenlang sei das so gewesen, und besonders oft in der Nacht zum Montag. Es war so, als kreiselten alle Gedanken wie in einem Wirbel. „Dann schlief ich erst wieder ein kurz bevor der Wecker klingelte.“ Am Frühstückstisch saß er wie gerädert, der Schatten der Nacht trübte den Tag ein. Seine Ärztin habe ihm gesagt, er sei körperlich gesund. Es sei alles nur eine „Episode“. Tabletten wollte er nicht nehmen.
Als er dann wieder einmal mitten in der Nacht aufwacht, fängt er an, seinem Atem nach zu lauschen. Sein Einatmen und Ausatmen sind regelmäßig, das beruhigt. Er folgt diesem Rhythmus, und er kommt zur Ruhe.
Irgendwann denkt er an früher, an seine Mutter, an die Gebete, die sie mit ihm am Kinderbett sprach. „Ich machte das mal probeweise“, sagt er verlegen. „Vater unser im Himmel“. Die Worte verhallen bei den ersten Versuchen. Es kommt nichts zurück. Dann aber nimmt er den Atem zur Hilfe. „Vater unser im Himmel“. Einatmen. Ausatmen. „Geheiligt werde dein Name“. Einatmen. Ausatmen. Er spürt eine uralte Kraft, die sich durch die Worte hindurch entfaltet. Er wacht morgens deutlich frischer auf.
Er erinnert sich an andere Gebete. Ein Vers aus der Konfirmandenzeit, lange ist das her. „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln“, auch dieses Gebet fügt sich in den Rhythmus des Atems ein. „Das ist jüdisch- christliche Tradition“, denkt er. Morgens sitzt er nun erholter am Frühstückstisch.
„Was wäre, wenn ich das meinen Kollegen oder beim Fußball erzählen würde?“, fragt er. „Behalten Sie Ihr Geheimnis lieber für sich, es gehört nur ihnen“, rate ich ihm, „aber Ihre neue Zuversicht geben Sie bitte weiter, diebrauchen die Anderen jetzt dringender denn je.“
NDR Kultur / NDR Info, Mittwoch, 18. März 2020
Henning Kiene , Pastor in Ahlbeck und Zirchow auf Usedom
Es pilgert sich leichter mit wenig Gepäck
Oben auf der ersten Stufe zu unserer Kirche in Zirchow saß im vergangenen Sommer ein Mann. Rucksack und Trinkflache standen neben ihm. Seine Füße steckten in großen Wanderschuhen. Seine Jacke, neu. In der Kirche sei es sicherlich kühler, aber „hier in der Sonne ist es herrlich“, sagte er. Er sei auf dem Pilgerweg, wandere auf der sogenannten Via Baltica. Dieser Pilgerweg führt nach Osnabrück, von dort geht es dann Richtung Santiago de Compostela. Das sei aber nicht sein Ziel, noch nicht. Das jetzt sei so ein Versuch, er nutze seinen Urlaub für diese Wanderung. Seine Familie verzichte auf ihn und die gemeinsame Zeit.
Dann erzählt er von Zuhause, seiner Frau, den Kindern. Sie wohnen schön, haben viel Platz, alte Möbel, er fahre auch ein tolles Auto. „Dienstwagen“, strahlt er. Beruflich gehe es ihm sehr gut. Und: Sie seien alle gesund, „hoffentlich“. Aber dann spricht er von einer Furcht. „Es scheint immer alles so selbstverständlich, auch unser persönliches Glück. Aber selbstverständlich ist doch nichts.“ Ich sehe sein Grübeln. Es ist, als zögen an diesem unbeschwerten Sommertag Sorgen auf.
„Ich spüre, beim Pilgern verschiebt sich etwas,“ sagt er. Dann schwärmt er von der Stille, von der schlichten Herberge der letzten Nacht, es sei einfach und schön, und das lange Schweigen und diese selbst gewählte Einsamkeit seien eine Wohltat. „Es scheint so, als übe ich für ein anderes Leben“, sagt er.
Gestern habe ich wieder an ihn gedacht. Ich sah ihn wieder, - natürlich nur vor meinem inneren Auge - er saß da, auf der Stufe vor unserer Kirche in der Sonne. Heute denke ich, dieser Pilger hat geübt für diese Tage, die wir gerade erleben.
„Sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat“, dieser Satz stammt von Jesus. „‘Sorgt nicht‘, das stimmt,“ antwortete er damals im vergangenen Sommer. „Irgendwann zählen sowieso nur noch Vertrauen und Optimismus“, so endete unser Gespräch. Er ließ den Rucksack auf seine Schultern gleiten und wanderte mit großen Schritten weiter. Heute hoffe ich, dass es ihm gut geht. Dieses „Es zählen sowieso nur noch Vertrauen und Optimismus“ klingt heute noch nach.
NDR Kultur / NDR Info Donnerstag, 19. März 2020
Henning Kiene , Pastor in Ahlbeck und Zirchow auf Usedom
Das Schweigen des Großvaters - nicht gesendet
„Dass Schweigen mir guttut, habe ich mühsam gelernt,“ erzählt er, „Schweigen begann mit meinem Großvater. Immer, wenn ich fragte, „Opa, erzähl mal von früher“, bekam ich ausweichende Antworten. „Es war Nazizeit, es war Krieg, ich war Soldat“, sagte Großvater. Auf Nachfragen brummelte er, „War alles nicht schön.“ Dann wurde er still, das Ticken der Standuhr klang ohrenbetäubend, er hätte gerne etwas gesagt. Er schwieg, war ja noch ein Kind. Das passte nicht zumOpa, den alle kannten, der gerne lachte und Oma schnell im Vorbeigehen küsste. „Dieses Schweigen war wie Blei, wir trugen in unserer ganzen Familie schwer daran“, erinnert er sich, „aber selbst darüber herrschte Schweigen.“
Es gibt ein bedrohliches Schweigen. In dem kommt die Angst und all das Dunkle nicht zur Sprache. Dieses Schweigen erstickt jedes Gespräch. Gerade heute ist es so wichtig, dass wir unsere Furcht nicht wortlos herunterschlucken. Hinsehen und Ertragen hilft, dann lässt es sich damit besser leben. .
Eines Tages trug der Opa dann ein dickes Album mit sich. Er legte es auf den Tisch. „Du sollst es lesen,“ murmelte er. „Ich habe es gelesen, später unzählige Mal“, erzählte der Enkel, der nun kein Kind mehr ist. „Es waren Bilder aus Opas Jugend, Fotos und kurze, präzise Texte, Ortsangaben, Daten aus dem Krieg. Opa war Fernmelder, sie zogen Kabel, und man sieht einen Wagen voller Technik.“ Dann: In Russland brennen Hütten, Zivilisten fliehen, Pferdewagen auf eisigen Wegen, Tote Pferde im Graben, aufgedunsen, kaputte Autos, „Rückzug“, schrieb er.
„Er saß neben mir, bis ich es durchgelesen hatte. Er schwieg, sah zu, auch dann noch, als die ganze Familie sein Buch las“, erinnert sich der Enkel. „Dieses Schweigen war aber anders. Es tat uns gut.“
Sie hatten in einen Abgrund gesehen. Es war Opas Leid. Eine ferne Schuld kam ihnen nah. Da liegt etwas nur in Gottes Hand. In seinen Augen erkannten sie seine Not und es löste sich etwas. „Da habe ich gelernt, wie gut Schweigen sein kann,“ sagt er.
Das ist das andere Schweigen, es kennt die Abgründe, es hält sogar die große Not aus. Es harrt aus und vertraut auf Gott. Solches Schweigen ist voller Demut, es lässt dem anderen Menschen Raum.
NDR Kultur / NDR Info Freitag, 20. März 2020
Henning Kiene , Pastor in Ahlbeck und Zirchow auf Usedom
#stayathome
Gestern abend um 19 Uhr leuchteten Kerzen in den Fenstern unserer Pfarrwohnung. Und wir haben gesungen: „Der Mond ist aufgegangen. Die goldenen Sternlein prangen“. In unserer Kirche hatte jemand die Idee: #balkonsingen. Motto: „Wir halten uns fern und sind füreinander da – Licht der Hoffnung!“ Die Straßen waren leer und wir in der Wohnung seit Tagen nur zu zweit. Aber die Kerzen taten uns gut, auch das Singen und wir wussten, andere machen zu selben Zeit mit. Das verspricht Verlässlichkeit: Die schlichte Geste, die einfache Melodie, die vertrauten Texte.
Unsere Freundin Sylvia unterstützt Kinder mit hohem Förderbedarf. Sylvia nimmt mehrmals täglich mit dem Handy kleine Filme auf. Sie sitzt zuhause am Tisch. Sie zeigt mit ihren Fingern Zählverse und singt dazu. Und ich stelle mir vor, wie die Kinder bei sich zu Hause ebenfalls am Tisch sitzen und mit ihren Fingern den Film nachspielen und singen das Lied. Sie können sich auf Sylvia verlassen.
Zwei Jugendliche aus der Jungen Gemeinde stecken Zettel in Briefkästen. Sie bieten älteren Menschen Gespräche am Telefon an. Sie würden deren Einkäufe erledigen und vor der Tür ablegen. Motto: „Wir halten Abstand und sind füreinander da“. Die Alten können sich auf die Jungen verlassen.
Ein Koch aus einem Hotel muss in die Kurzarbeit wechseln. Er und seine Frau haben sich gerade eine größere Wohnung geleistet. „Das ist hart, es tut mir aufrichtig leid“, sagt der neue Nachbar über den Gartenzaun. Das Mitleid klingt echt und es tut jetzt einfach gut.
In dieser Krise stehen die kleinen Gesten für Verlässlichkeit. „Einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen“, schreibt der Apostel Paulus an seine Gemeinde. Diese oft bedrückende Stimmung wird nicht Oberhand gewinnen. Es wirken viele Kräfte dagegen. Dieser äußere Abstand, den wir alle wahren müssen, macht das Leben der Jungen und der Alten sicherer.
Sylvias Handy-Filme, die Telefonate der Jugendlichen, das Einkaufen, die vielen Gespräche über den Gartenzaun auch die echte, menschliche Anteilnahme sorgen für Verlässlichkeit. Ich bin mir sicher, es gibt auch auf Distanz viel Nähe.
Auch Heute Abend: Wir zünden die Kerzen wieder an, Singen „Der Mond ist aufgegangen“. Gerade auf Abstand sind wir in diesen Tagen wirklich füreinander da.
NDR Kultur / NDR Info Sonnabend 21. März 2020
Henning Kiene, Pastor in Ahlbeck und Zirchow auf Usedom
Weiter Blick und ferne Häfen
Sonnabends am Strand von Ahlbeck. Viele Gäste unserer Insel zieht es hierher. Man sieht sie in kleinen Gruppen. Sie wandern direkt am Wasser entlang. Eine große Fähre verlässt den nahen Hafen, steuert ein fernes Ziel an. Im Vorübergehen fange ich Gesprächsfetzen auf. Es geht um die Arbeit, und um die Familie. Ein Paar spricht von der Hochzeit. Mehr höre ich nicht. Man sieht Gesten, manchmal bleibt jemand stehen, als müsse ein Satz unterstrichen werden.
Die gemächliche Muße am Sonnabend gehört hier in Ahlbeck zum Rhythmus der Woche. Offenbar inspiriert der Strand, und die Weite der Ostsee belebt die Gespräche. Das tut den Menschen gut und mir auch. Es ist als legte man in solchen Gesprächen einen Vorrat Menschlichkeit an. Gerade die Vorstellung, dass da in der Ferne ein Hafen ist, es ein Ziel zu erreichen gilt, regt die Fantasie an.
Heute bleibt der Stand leer. Das ist ungewohnt. Nur wenig Menschen sind weit und breit zu sehen, seit Tagen ist das so. Das ist bedrückend. Der Sonnabend hält dennoch seine Mußestunden bereit. Es ist die Zeit für gründliche Gespräche. Heute greife ich nur zum Telefon. Rufe sie an, die alten Eltern, meine Schwester und den Freund in Münster. Wir haben uns so vieles zu sagen. Wir werden uns an unsere Ziele erinnern. In diesen Tagen kann man sogar abgerissene Gesprächsfäden wieder aufnehmen.
Eine Erinnerung klingt an: Als Israel durch die Wüste zog, erhielten die Menschen eine Portion Manna, Himmelsbrot, abgewogen nur für einen Tag. Ausnahme: der sechste Tag, da bekamen die Menschen eine doppelte Ration. Eine mehr, für den kommenden Sabbat. „Sehet, der Herr hat euch den Sabbat gegeben; darum gibt er euch am sechsten Tage für zwei Tage Brot“, (2. Mose 16,29) heißt es in der Bibel. Das gehört zum Sonnabend, das Proviant, das bereit liegt, gilt es aufzusammeln. Gott gibt mehr als wir unbedingt brauchen. Das, was uns verbindet, das Menschliche, liegt auch heute bereit. Gott steht für den Proviant ein, den wir benötigen werden.
Predigt und Gebet zum Lesen und Mitmachen
Sonntag Okuli, 15. März 2020, Evangelisches Pfarramt Ahlbeck-Zirchow auf Usedom
Pastor Henning Kiene
Predigttext: Als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu Jesus: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Er aber sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes! Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Hause sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes. Lukasevangelium 9,57-62
Liebe Gemeinde,
im Rückspiegel sah er sie noch lange, beide winken sie ihm nach. Er spürt den Fahrtwind an seinem Arm. Dann kurbelt er das Fenster hoch. Hinter ihm seine „Alten“ vor ihm ein Studienplatz. Er sieht, wie der Vater verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel wischt. Mutter greift nach Vaters Hand. Er denkt an das, was kommt: Studium, Ausbildung, Zukunft, Freundschaften. Es liegt noch unbekannt vor ihm. Kein Ballast beschwert ihn. Der Fuß sucht das Gaspedal. Das geliehene Auto beschleunigt. Die Luft riecht nach Benzin. Dann aber zieht der Duft der Freiheit durch das voll beladene Auto.
Momente voller Aufbruch. Es gibt sie immer wieder. Auch heute liegt etwas Neues, Unbekanntes in der Luft. Es ist bedrückend, macht das Herz schwer. Abschied: Das letzte Abschließen der Tür. Wohnung ist leergeräumt. Neubeginn im frisch gestrichenen Zuhause, das noch keines ist. Oder: Das Elternhaus aufgelöst. Die Ehe auseinander. Ein letztes Mal rumort der Schlüssel im Schloss. Nun heißt es, die Schlüssel abgeben. Das ist dann doch noch plötzlich. Kloß im Hals. Man schluckt. Nun heißt es: Neu beginnen. Der Kopf sagt, „du gehst gerade über eine Schwelle.“ Es gibt jetzt ein „Damals“ und es gibt ein „Morgen“ und ich bin schon mehr im „Morgen“, als mir lieb ist. Heute ist die Schwelle erreicht, wieder einmal. Jede und jeder spürt es. Heute liegt allerdings weniger Freiheit in der Luft, es ist viel Angst, sehr viel Angst zu spüren.
„Folge mir nach!“ - Übergänge sind hart, oft auch steinhart. Solche Erfahrungen sind eingeflossen in das Evangelium. Abraham brach aus Ur auf. Sahra wurde im hohen Alter schwanger. Hanna bringt Samuel zur Welt und sie preist Gott „Er hebt auf den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche“ (bitte lesen: 1. Samuelis 2,1-11). Petrus lässt die Netze liegen. Aus dem Fischer wird ein „Menschenfischer“. „Folge mir nach!“, so klingt es am Übergang. Was war, ist gewesen, das was sein wird, trägt den Keim des Neuen in sich. Es muss nicht alles schlechter, es kann ja auch vieles besser werden.
Wir können dieser Angst, die in uns herumwirbelt, ja auch unsere Hoffnung entgegenhalten. Wir können der Furcht um die Gesundheit auch mit dem Vertrauen begegnen, das uns alle Tage trägt. Es wenigstens versuchen! Denn Gott handelt mit uns nicht durch Leid. In Jesus Christus offenbart sich Gott ein für alle Mal als ein liebender Gott. Er begleitet uns unter Verzicht auf menschliche Macht und Gewalt auch durch die tiefen Täler des Lebens. Das ist wichtig zu wissen auf der Schwelle zu Neuem.
Ich höre Jesu Stimme „folge mir nach“, sie klingt in meinen Ohren heute schroffer als sonst, unnachgiebig. So kenne ich seine Stimme nicht. Denn mancher Aufbruch im Leben eröffnet weder Alternative noch ein Zurück. Da hängen die Zimmerdecken nach dem Bombenangriff schräg, Mauern liegen auf der Straße, die Möbel rutschen. Die Flucht wird zur letzten Chance. Am vergangenen Donnerstag erzählte eine alte Frau aus Swinemünde. Das war im März 1945. Und heute ist das in vielen Gebieten der Welt nicht viel besser. Da sitzen sie am Grenzzaun zu Europa und hoffen auf einen besseren Morgen. Es sind – wie vor 75 Jahren – wieder die Kinder, die dem schroffen Leben begegnen. Zum Glück handelt Gott nicht durch Leid. Darum: Die Politik könnte Leid lindern und wenigstens die Kinder retten.
„Folge mir nach!“ höre ich. Das Schroffe, das alles überlagert, weicht aus Jesu Wort. „Ich muss aber doch noch“, denke ich, schnell noch „Tschüss sagen“, länger winken, noch einmal die Tür öffnen, ein aller letztes Mal durch die leeren Räume gehen. An den Wänden hingen meine alten Poster. Die Schatten sind noch zu erkennen. Auch noch einmal an das Grab der Eltern treten, das wäre vielleicht gut. Abschiednehmen braucht Zeit, weiß Jesus das denn nicht? Zwei Fragen lässt Jesus zu, zwei Extrarunden durch das Gestern. Zum Glück wird hier nicht gescholten. Da ist wieder dieser Moment auf der Schwelle. Irgendetwas Neues liegt in der Luft. Gut ist dran, wer nun aus dem Autofenster winkt und sieht, was im Rückspiegel immer kleiner wird und dabei doch noch heiter sein kann und voller Zuversicht. An vielen Schwellen reicht es, einmal kräftig zu schlucken und der Moment des Schmerzes verfliegt.
Heute aber jagt seit Tagen eine schlechte Nachricht die nächste. „Ich bin Risikogruppe“, höre ich aus allen Ecken. Es liegt viel Angst in der Luft. „Gespenstisch“, sagt jemand. Die Grenzen nach Swinemünde werden geschlossen. Das ist keine Zukunftsoption, das macht Angst.
Doch dann kommt das Evangelium für diesen Sonntag. Jesu Stimme klingt kraftvoll und ist sicher: „Wer die Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes.“ So höre ich ihn heute. Kein Wort spricht vom nahen Untergang. Jesus wagt es an der Schwelle, über die es nun geht, vom Neuen, vom Reich Gottes zu reden. Da wird Hoffnung wach. Zu den Ängstlichen sagt er: „Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“ (Matthäus 5,4). Da klingt Mut herüber. Keineswegs ist heute ein Schlusspunkt. Es ist eine Schwelle. Am Kreuz spricht er später sogar vom Paradies. Das sind die Perspektiven, die sich aus dem Evangelium heraus in das Leben hinein entfalten.
Mitten in dieser harten Zeit ist kein Kompromiss mehr möglich: „Folge mir nach!“ Da sind Menschen, die lassen sich ihre Hoffnung nicht verderben. Die Hilfebereitschaft wird nicht untergebuttert von der Angst. Da wird in diesen Tagen viel gebetet „Vater hilf!“ Es wird mit den Alten telefoniert, da wird Acht gegeben, dass die Kinder den Alten fernbleiben und niemand einsam und verlassen in der Wohnung sitzt. Kann ich helfen? Kann ich etwas mitbringen? ich lege es vor die Haustür. Da sind die Erfahrungen, die aus der Bibel heraus heute ihre Wirkung entfalten. Man spricht von Achtsamkeit. Ich zitiere nur: „Folge mir nach!“
Diesen Blick in den Rückspiegel, in dem er seine Eltern sieht, beide stehen Hand in Hand an der Straße, hat er nie vergessen. Er ist dankbar, dass er damals aufbrechen durfte. Er spürt den Fahrtwind, als er aus dem Fenster winkt. Und weiß, dass sie ihn gerne haben fahren lassen. Aus damals ist er klug geworden. Dieser Abschied war nur eine Übung für bedeutend schwereren Abschied. Aber er weiß: Aus dem Fischer von der Küste wird ein „Menschenfischer“. Hanna preist Gott: „Er hebt auf den Dürftigen aus dem Staub und erhöht den Armen aus der Asche.“
„Folge mir nach!“, das heißt heute, aus den Ängstlichen werden Mutige, aus den Verzagten gehen Starke hervor. So klingt Jesu Wort auf der Schwelle: Mehr nach liebendem Gott, als nach Angst. So klingt Jesus auf der Schwelle, nach viel Sehnsucht, die sich in Richtung Hoffnung ausstreckt, eben nach dem Sound, den das Reich Gottes mit sich bringt. Amen.
Gebet:
Guter Gott, du bist in unserer Mitte,
dein Wort öffnet Wege, verspricht neuen Mut.
Gott, dir sei Dank.
Nun aber bitten wir,
für unsere Kinder, bewahre sie,
für unsere Alten, hüte sie,
für alle, die in der Mitte des Lebens stehen, stärke sie,
nimm dich unser an.
Gib Ruhe in aufgewühlten Seelen,
Vernunft in hektische Gedanken,
schenke Besonnenheit in allem Tun.
Gott, höre unser Gebet.
Guter Gott, du bist in unserer Mitte,
dein Wort öffnet Wege, verspricht neuen Mut.
Gott, dir sei Dank.
Nun aber bitten wir,
für alle, die Verantwortung tragen, in Politik, Medien und Wirtschaft, stärke sie,
für die, die Dienst tun in Kliniken, Rettungsdiensten, bei Polizei und Feuerwehr, schütze sie,
für alle, die Dienst tun für unsere Kommune, hilf helfen,
nimm dich ihrer an.
Gib Ruhe in aufgewühlten Seelen,
Vernunft in hektische Gedanken,
schenke Besonnenheit in allem Tun.
Gott, höre unser Gebet.
(Schweigen)
Vater unser im Himmel.
Geheiligt werde dein Name.
Dein Reich komme.
Dein Wille geschehe,
wie im Himmel, so auf Erden,
Unser tägliches Brot gib uns heute.
Und vergib uns unsere Schuld,
wie auch wir vergeben
Unseren Schuldigern.
Und führe uns nicht in Versuchung,
sondern erlöse uns von dem Bösen.
Denn dein ist das Reich und die Kraft
und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen
Jeder sagt es für jeden: Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir (+) Frieden. Amen
Guter Gott,
die Corona-Krise macht uns Angst. Solch eine Situation hatten wir noch nie.
Auf der ganzen Welt werden Menschen deswegen krank.
Und noch viel mehr bleiben zuhause oder auf Abstand zueinander, um sich nicht anzustecken mit dem neuen Virus.
Ich bitte dich: Steh uns bei in dieser Situation.
Sei bei den Kranken und den Risikopatienten und bei allen, die sich um sie kümmern.
Hilf uns, gelassen zu bleiben.
Hilf uns, Solidarität zu zeigen mit denjenigen, die wir jetzt besonders schützen müssen.
Guter Gott,
lass diese Corona-Krise bald vorübergehen.
Und schenke uns jetzt Mut und Zuversicht.
Amen.
Beate Hirt (https://www.kirche-im-hr.de/aktuelles/2020/gebet-in-der-corona-krise/?ADMCMD_simTime=1584144060)
Das Nagelkreuzgebet aus Coventry (aus Anlass des 75. Jahrestages der Bombadierung der Stadt Swinemünde - 12. März 2020)
Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten. (Römer 3, 23)
Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse,
Vater, vergib.
Das Streben der Menschen und Völker zu besitzen, was nicht ihr Eigen ist,
Vater, vergib.
Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet,
Vater, vergib.
Unseren Neid auf das Wohlergehen und Glück der Anderen,
Vater, vergib.
Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge,
Vater, vergib.
Die Gier, die Frauen, Männer und Kinder entwürdigt und an Leib und Seele missbraucht,
Vater, vergib.
Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott,
Vater, vergib.
Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen, wie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus. (Epheser 4, 32